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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Flucht; nur einer blieb auf dem Platze stehen trat und zum General Martynow,
um durch diesen dem Großfürsten Michail seinen Degen zu übergeben; --
es war M. K. Küchelbecker, Lieutenant der Garde-Equipage. In diesem
Augenblick sprengte der Obrist Saß von der Garde-Pionnier-Escadron mit
geschwungenem Säbel auf ihn zu, General Martynow hielt den Obristen
auf und sagte! "Tapferer Obrist Saß! Sie sehen doch, daß er mir seinen Degen
schon eingehändigt hat." -- Als der Platz gesäubert war, rückte das Regi.
neue der Garde zu Pferde über die Jsaaksbrücke nach Wassily-Ostrow.

Ich führte meinen Zug zur Manege des ersten Cadettencorps. Mein
Regimentscommandeur war unterdessen angelangt und befahl mir, meinen
Zug in dem innern Hofe der Wohnung des Directors des Cadettencorps,
gegenüber der großen Perspective, aufzustellen. Dahin war der Regiments-
geistliche beordert worden, ich wußte nicht warum. Mir wurde angedeutet,
mich vom Zuge zu entfernen. Ich sah, daß meine Soldaten einen Kreis
schlössen, der Geistliche fing an sie zu ernähren; darauf drängte ich mich
durch den Kreis und erklärte laut, daß meine Soldaten in Nichts schuld
seien, daß sie ihrem Vorgesetzten gehorchen müßten; ich entfernte mich, in¬
dessen sie den verlangten Eid leisteten. -- Sterne funkelten schon am Him¬
mel; auf allen Plätzen leuchteten Bivouakfeuer, Patrouillen zu Pferde und
zu Fuß durchstreiften alle Straßen. Ich mußte mit meinem Zuge den And-
reew'schen Markt und die Kaufläden daselbst besetzen. Sogleich wurde in die
Kaserne gesandt, um Mäntel zu holen; seit 10 Uhr Morgens befand ich
mich in leichter Uniform. Am andern Morgen sah ich meine Frau nur eine
Sekunde, es war -- um mich auf lange von ihr zu trennen. Auf kaiser¬
lichen Befehl wurde ich am Is. Morgens arretirt.

Wenn ich die Ereignisse dieses denkwürdigen Tages noch einmal an
mir vorüber ziehen lasse, so muß ich noch heute der Meinung sein, daß ein
Erfolg des Aufstandes leicht möglich gewesen wäre. Mehr denn zweitausend
Soldaten und eine viel größere Menge Volkes war bereit, den Winken eines
Anführers zu gehorchen. Dieser Führer war ernannt und seine Wahl schien
nicht unglücklich; ich habe mit dem Fürsten Trubetzkoy sechs Jahre zusammen
gelebt, viele meiner Kameraden kannten ihn noch sehr viel länger, Alle waren
darin einig, daß er jederzeit ein tüchtiger und energischer Mann war, auf
den man sich verlassen konnte. Warum er zur bestimmten Stunde nicht auf
seinem Platze war, hat nie Jemand erfahren; ich glaube, er weiß es selbst
nicht, er hatte den Kopf verloren. Dieser eine, vorher nicht zu berechnende
Umstand ist entscheidend gewesen. Fürst Obolenski, der an Trubetzkoy's Stelle
gewählt wurde, wußte selbst, daß er dieser Stellung nicht gewachsen sei.
Während man mit ihm verhandelte und sein Sträuben zu überwinden suchte,
verstrich die kostbarste Zeit und fehlte alle Einheit der Action; die zu


Grenzboten IV. 18V8. 15

Flucht; nur einer blieb auf dem Platze stehen trat und zum General Martynow,
um durch diesen dem Großfürsten Michail seinen Degen zu übergeben; —
es war M. K. Küchelbecker, Lieutenant der Garde-Equipage. In diesem
Augenblick sprengte der Obrist Saß von der Garde-Pionnier-Escadron mit
geschwungenem Säbel auf ihn zu, General Martynow hielt den Obristen
auf und sagte! „Tapferer Obrist Saß! Sie sehen doch, daß er mir seinen Degen
schon eingehändigt hat." — Als der Platz gesäubert war, rückte das Regi.
neue der Garde zu Pferde über die Jsaaksbrücke nach Wassily-Ostrow.

Ich führte meinen Zug zur Manege des ersten Cadettencorps. Mein
Regimentscommandeur war unterdessen angelangt und befahl mir, meinen
Zug in dem innern Hofe der Wohnung des Directors des Cadettencorps,
gegenüber der großen Perspective, aufzustellen. Dahin war der Regiments-
geistliche beordert worden, ich wußte nicht warum. Mir wurde angedeutet,
mich vom Zuge zu entfernen. Ich sah, daß meine Soldaten einen Kreis
schlössen, der Geistliche fing an sie zu ernähren; darauf drängte ich mich
durch den Kreis und erklärte laut, daß meine Soldaten in Nichts schuld
seien, daß sie ihrem Vorgesetzten gehorchen müßten; ich entfernte mich, in¬
dessen sie den verlangten Eid leisteten. — Sterne funkelten schon am Him¬
mel; auf allen Plätzen leuchteten Bivouakfeuer, Patrouillen zu Pferde und
zu Fuß durchstreiften alle Straßen. Ich mußte mit meinem Zuge den And-
reew'schen Markt und die Kaufläden daselbst besetzen. Sogleich wurde in die
Kaserne gesandt, um Mäntel zu holen; seit 10 Uhr Morgens befand ich
mich in leichter Uniform. Am andern Morgen sah ich meine Frau nur eine
Sekunde, es war — um mich auf lange von ihr zu trennen. Auf kaiser¬
lichen Befehl wurde ich am Is. Morgens arretirt.

Wenn ich die Ereignisse dieses denkwürdigen Tages noch einmal an
mir vorüber ziehen lasse, so muß ich noch heute der Meinung sein, daß ein
Erfolg des Aufstandes leicht möglich gewesen wäre. Mehr denn zweitausend
Soldaten und eine viel größere Menge Volkes war bereit, den Winken eines
Anführers zu gehorchen. Dieser Führer war ernannt und seine Wahl schien
nicht unglücklich; ich habe mit dem Fürsten Trubetzkoy sechs Jahre zusammen
gelebt, viele meiner Kameraden kannten ihn noch sehr viel länger, Alle waren
darin einig, daß er jederzeit ein tüchtiger und energischer Mann war, auf
den man sich verlassen konnte. Warum er zur bestimmten Stunde nicht auf
seinem Platze war, hat nie Jemand erfahren; ich glaube, er weiß es selbst
nicht, er hatte den Kopf verloren. Dieser eine, vorher nicht zu berechnende
Umstand ist entscheidend gewesen. Fürst Obolenski, der an Trubetzkoy's Stelle
gewählt wurde, wußte selbst, daß er dieser Stellung nicht gewachsen sei.
Während man mit ihm verhandelte und sein Sträuben zu überwinden suchte,
verstrich die kostbarste Zeit und fehlte alle Einheit der Action; die zu


Grenzboten IV. 18V8. 15
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/127>, abgerufen am 05.02.2025.