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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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wählte Dictator, Fürst Trubetzkoy, war nicht zu sehen; seine ernannten Ge¬
hülfen waren auch nicht auf den ihnen angewiesenen Posten, obgleich auf
dem Platze anwesend. Man bot das Commando dem Obristen Bulatow
an; er schlug es aus. Man bot es Bestushew I. an; er lehnte es ab, da
er bloßer Flottencapitän sei und den Jnfanteriedienst nicht kenne. Endlich
drängte man dem Fürsten E. P. Obolensky den Oberbefehl auf. der zwar
nicht Taktiker, aber von den Soldaten gekannt und geliebt war. Es herrschte
vollständige Anarchie; da der Dictator ausgeblieben war. so fehlten alle An¬
ordnungen -- Alle commentirten und schrien durcheinander, Alle erwarteten
Hilfe und in Erwartung dieser schlug man die feindlichen Angriffe ab, ohne
aber selbst anzugreifen, was während der ersten Stunden schwerlich ohne
Erfolg geblieben wäre; hartnäckig weigerte man die Uebergabe und stolz ver¬
warf man die versprochene Gnade.

Allmählich versammelten sich die Truppen der Gegenpartei. Die Garde
zu Pferde war zuerst auf dem Platze. Die Bataillone des Jsmcnlow'schen
und des Jägerregiments kamen längst der Wosnessenski'schen Straße zur
blauen Brücke; das Semenow'sche Regiment längs der Erbsenstraße. Am
Admiralitätsboulevard stand das Viereck des Preobrashenski'schen Regiments.
Dort war der Kaiser zu Pferde mit einer zahlreichen Suite sichtbar; im Quarre'
befand sich der Thronfolger, als siebenjähriger Knabe, mit seinem Erzieher.
Vor dem Viereck waren Kanonen von der Brigade des Obristen Nesterowsky
aufgefahren, unter Bedeckung eines Auges Chevaliergarde unter dem Com¬
mando des Lieutenants I. A. Annenkow. Hinter dem kaiserlichen Quarre
stand ein Bataillon der Pawlow'schen Garde, die Sappeure waren, wie be¬
reits bemerkt, im Hofe des Winterpalais aufgestellt. -- Die Ergebenheit dieser
Truppen für den Thron war an diesem Tage keine vollständige oder un¬
bedingte; sie wankte in der entscheidenden Stunde. Als das zweite Ba¬
taillon der Gardejäger den Befehl erhielt, über die blaue Brücke weiter vorzu¬
rücken, und sich in Bewegung setzte, commandirte Jakubowitsch: "Linksum!"
-- und das ganze Bataillon kehrte um, obgleich die Treue des Bataillons¬
commandeurs, des Obristen W, I. Buße, die zuverlässigste, unbestreitbarste war;
wegen dieses Umstandes wurde Obrist Buße nicht zum Flügeladjutanten des
Kaisers ernannt, eine Auszeichnung, welche den Commandeuren aller Bataillone
der Garde, welche zum Kaiser hielten, an diesem Tage zu Theil wurde,
natürlich meinen Bataillonschef Talubjew, der durch die Haltung meines
Zuges compromittirt war, ausgenommen. Das Jsmailow'sche Regiment
war an diesem Tage auch nicht ganz zuverlässig. Dafür aber attaquirte die
Garde zu Pferde unter Anführung A. I. Orlow's fünf Mal mit Ungestüm
gegen das Quarre des moskauschen Regiments und wurde fünf Mal durch
Bajonnette und Flintenkugeln zurückgeschlagen.


wählte Dictator, Fürst Trubetzkoy, war nicht zu sehen; seine ernannten Ge¬
hülfen waren auch nicht auf den ihnen angewiesenen Posten, obgleich auf
dem Platze anwesend. Man bot das Commando dem Obristen Bulatow
an; er schlug es aus. Man bot es Bestushew I. an; er lehnte es ab, da
er bloßer Flottencapitän sei und den Jnfanteriedienst nicht kenne. Endlich
drängte man dem Fürsten E. P. Obolensky den Oberbefehl auf. der zwar
nicht Taktiker, aber von den Soldaten gekannt und geliebt war. Es herrschte
vollständige Anarchie; da der Dictator ausgeblieben war. so fehlten alle An¬
ordnungen — Alle commentirten und schrien durcheinander, Alle erwarteten
Hilfe und in Erwartung dieser schlug man die feindlichen Angriffe ab, ohne
aber selbst anzugreifen, was während der ersten Stunden schwerlich ohne
Erfolg geblieben wäre; hartnäckig weigerte man die Uebergabe und stolz ver¬
warf man die versprochene Gnade.

Allmählich versammelten sich die Truppen der Gegenpartei. Die Garde
zu Pferde war zuerst auf dem Platze. Die Bataillone des Jsmcnlow'schen
und des Jägerregiments kamen längst der Wosnessenski'schen Straße zur
blauen Brücke; das Semenow'sche Regiment längs der Erbsenstraße. Am
Admiralitätsboulevard stand das Viereck des Preobrashenski'schen Regiments.
Dort war der Kaiser zu Pferde mit einer zahlreichen Suite sichtbar; im Quarre'
befand sich der Thronfolger, als siebenjähriger Knabe, mit seinem Erzieher.
Vor dem Viereck waren Kanonen von der Brigade des Obristen Nesterowsky
aufgefahren, unter Bedeckung eines Auges Chevaliergarde unter dem Com¬
mando des Lieutenants I. A. Annenkow. Hinter dem kaiserlichen Quarre
stand ein Bataillon der Pawlow'schen Garde, die Sappeure waren, wie be¬
reits bemerkt, im Hofe des Winterpalais aufgestellt. — Die Ergebenheit dieser
Truppen für den Thron war an diesem Tage keine vollständige oder un¬
bedingte; sie wankte in der entscheidenden Stunde. Als das zweite Ba¬
taillon der Gardejäger den Befehl erhielt, über die blaue Brücke weiter vorzu¬
rücken, und sich in Bewegung setzte, commandirte Jakubowitsch: „Linksum!"
— und das ganze Bataillon kehrte um, obgleich die Treue des Bataillons¬
commandeurs, des Obristen W, I. Buße, die zuverlässigste, unbestreitbarste war;
wegen dieses Umstandes wurde Obrist Buße nicht zum Flügeladjutanten des
Kaisers ernannt, eine Auszeichnung, welche den Commandeuren aller Bataillone
der Garde, welche zum Kaiser hielten, an diesem Tage zu Theil wurde,
natürlich meinen Bataillonschef Talubjew, der durch die Haltung meines
Zuges compromittirt war, ausgenommen. Das Jsmailow'sche Regiment
war an diesem Tage auch nicht ganz zuverlässig. Dafür aber attaquirte die
Garde zu Pferde unter Anführung A. I. Orlow's fünf Mal mit Ungestüm
gegen das Quarre des moskauschen Regiments und wurde fünf Mal durch
Bajonnette und Flintenkugeln zurückgeschlagen.


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[0124] wählte Dictator, Fürst Trubetzkoy, war nicht zu sehen; seine ernannten Ge¬ hülfen waren auch nicht auf den ihnen angewiesenen Posten, obgleich auf dem Platze anwesend. Man bot das Commando dem Obristen Bulatow an; er schlug es aus. Man bot es Bestushew I. an; er lehnte es ab, da er bloßer Flottencapitän sei und den Jnfanteriedienst nicht kenne. Endlich drängte man dem Fürsten E. P. Obolensky den Oberbefehl auf. der zwar nicht Taktiker, aber von den Soldaten gekannt und geliebt war. Es herrschte vollständige Anarchie; da der Dictator ausgeblieben war. so fehlten alle An¬ ordnungen — Alle commentirten und schrien durcheinander, Alle erwarteten Hilfe und in Erwartung dieser schlug man die feindlichen Angriffe ab, ohne aber selbst anzugreifen, was während der ersten Stunden schwerlich ohne Erfolg geblieben wäre; hartnäckig weigerte man die Uebergabe und stolz ver¬ warf man die versprochene Gnade. Allmählich versammelten sich die Truppen der Gegenpartei. Die Garde zu Pferde war zuerst auf dem Platze. Die Bataillone des Jsmcnlow'schen und des Jägerregiments kamen längst der Wosnessenski'schen Straße zur blauen Brücke; das Semenow'sche Regiment längs der Erbsenstraße. Am Admiralitätsboulevard stand das Viereck des Preobrashenski'schen Regiments. Dort war der Kaiser zu Pferde mit einer zahlreichen Suite sichtbar; im Quarre' befand sich der Thronfolger, als siebenjähriger Knabe, mit seinem Erzieher. Vor dem Viereck waren Kanonen von der Brigade des Obristen Nesterowsky aufgefahren, unter Bedeckung eines Auges Chevaliergarde unter dem Com¬ mando des Lieutenants I. A. Annenkow. Hinter dem kaiserlichen Quarre stand ein Bataillon der Pawlow'schen Garde, die Sappeure waren, wie be¬ reits bemerkt, im Hofe des Winterpalais aufgestellt. — Die Ergebenheit dieser Truppen für den Thron war an diesem Tage keine vollständige oder un¬ bedingte; sie wankte in der entscheidenden Stunde. Als das zweite Ba¬ taillon der Gardejäger den Befehl erhielt, über die blaue Brücke weiter vorzu¬ rücken, und sich in Bewegung setzte, commandirte Jakubowitsch: „Linksum!" — und das ganze Bataillon kehrte um, obgleich die Treue des Bataillons¬ commandeurs, des Obristen W, I. Buße, die zuverlässigste, unbestreitbarste war; wegen dieses Umstandes wurde Obrist Buße nicht zum Flügeladjutanten des Kaisers ernannt, eine Auszeichnung, welche den Commandeuren aller Bataillone der Garde, welche zum Kaiser hielten, an diesem Tage zu Theil wurde, natürlich meinen Bataillonschef Talubjew, der durch die Haltung meines Zuges compromittirt war, ausgenommen. Das Jsmailow'sche Regiment war an diesem Tage auch nicht ganz zuverlässig. Dafür aber attaquirte die Garde zu Pferde unter Anführung A. I. Orlow's fünf Mal mit Ungestüm gegen das Quarre des moskauschen Regiments und wurde fünf Mal durch Bajonnette und Flintenkugeln zurückgeschlagen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/124>, abgerufen am 05.02.2025.