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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Rücksicht zu beseitigen. Ich kann behaupten, daß mit der Veröffentlichung
des Testaments am 27. November Alle unweigerlich dem Großfürsten Niko¬
laus gehuldigt haben würden; wenigstens hätte der Aufstand nicht die zweite
Eidesleistung zum Vorwand gehabt, jene Eidesleistung, welche den vor sechs¬
zehn Tagen geschworenen Eid auflöste und zugleich erwies, daß der Wille
Alexander's nicht berücksichtigt worden war, wie es den bestehenden Gesetzen
gemäß hätte geschehen müssen.

Vom 27. November bis zum 14. December währte das Interregnum
oder Zwischenreich. Dieser Zeitabschnitt ist nachträglich durch ein Manifest
aus der Welt geschafft worden, welches anordnete, den Tag der Thronbestei¬
gung des Kaisers Nikolaus am 19. November, als dem Todestage Alexanders,
zu feiern. -- Der Großfürst Constantin, dem das ganze Reich huldigte,
blieb ruhig in Warschau, fest in seinem Entschluß der Thronentsagung; er
empfing keine Beglückwünschungen, er entsiegelte kein Paket der Minister,
weil die Aufschrift seinem Namen den kaiserlichen Titel hinzufügte. -- Der
Großfürst Michael war dem neuen Kaiser entgegengesandt worden; er war¬
tete auf der livländischen Station Umnak auf dessen Ankunft, oder auf eine
genaue Nachricht über dessen Entsagung. In Petersburg war Alles ver¬
stummt inmitten peinlicher Erwartung und Ungewißheit: keine Musik er¬
tönte aus den Wachparaden, die Frauen der höheren und mittleren Stände
trugen Trauerkleider, in allen Kirchen sang man Todtenmessen, Niemand
konnte sich der allgemeinen Niedergeschlagenheit entziehen. --

Ich habe schon gesagt, daß der Großfürst Nikolaus von dem Bestehen
der geheimen Gesellschaft, von deren Zweck und Mitgliedern Kenntniß hatte
und daß auch mehrere Personen seiner nächsten Umgebung davon wußten. Es
liegt nahe zu fragen, welche Maßregeln von ihnen getroffen wurden, um dem
bevorstehenden Aufstand zuvorzukommen? Gar keine. Alles war dem Zufall
überlassen. In Gesellschaften, im Kreise der Offiziere waren Gerüchte in
Umlauf, die sich oft widersprachen; man raisonnirte über das Testament
Alexander's, man urtheilte über das unantastbare Recht Constantin's, über
die Großmuth Nikolaus', der laut Testament das vollkommene Recht auf
den Thron habe, ihn aber nicht besteigen wolle, um dem Rechte seines älte¬
ren Bruders nicht zu nahe zu treten. Nikolaus glaubte nach seinem eigenen
Geständniß, daß er die Liebe des Volkes und der Truppen nicht besitze.

Am 6. December bezog ich die innere Wache im Winterpalast. Wie an
Feiertagen gewöhnlich, standen lange Reihen von Gratulanten. Hofchargen
und Militärs in den Sälen, um die kaiserliche Familie beim Vorübergehen
in die Kirche zu begrüßen. Man hörte keine Gespräche, einzelne Gruppen
traten zusammen und flüsterten einander ängstlich in die Ohren. -- Am 10.
December Abends erhielt ich ein Billet von einem DieTistcameraden Capitän


Rücksicht zu beseitigen. Ich kann behaupten, daß mit der Veröffentlichung
des Testaments am 27. November Alle unweigerlich dem Großfürsten Niko¬
laus gehuldigt haben würden; wenigstens hätte der Aufstand nicht die zweite
Eidesleistung zum Vorwand gehabt, jene Eidesleistung, welche den vor sechs¬
zehn Tagen geschworenen Eid auflöste und zugleich erwies, daß der Wille
Alexander's nicht berücksichtigt worden war, wie es den bestehenden Gesetzen
gemäß hätte geschehen müssen.

Vom 27. November bis zum 14. December währte das Interregnum
oder Zwischenreich. Dieser Zeitabschnitt ist nachträglich durch ein Manifest
aus der Welt geschafft worden, welches anordnete, den Tag der Thronbestei¬
gung des Kaisers Nikolaus am 19. November, als dem Todestage Alexanders,
zu feiern. — Der Großfürst Constantin, dem das ganze Reich huldigte,
blieb ruhig in Warschau, fest in seinem Entschluß der Thronentsagung; er
empfing keine Beglückwünschungen, er entsiegelte kein Paket der Minister,
weil die Aufschrift seinem Namen den kaiserlichen Titel hinzufügte. — Der
Großfürst Michael war dem neuen Kaiser entgegengesandt worden; er war¬
tete auf der livländischen Station Umnak auf dessen Ankunft, oder auf eine
genaue Nachricht über dessen Entsagung. In Petersburg war Alles ver¬
stummt inmitten peinlicher Erwartung und Ungewißheit: keine Musik er¬
tönte aus den Wachparaden, die Frauen der höheren und mittleren Stände
trugen Trauerkleider, in allen Kirchen sang man Todtenmessen, Niemand
konnte sich der allgemeinen Niedergeschlagenheit entziehen. —

Ich habe schon gesagt, daß der Großfürst Nikolaus von dem Bestehen
der geheimen Gesellschaft, von deren Zweck und Mitgliedern Kenntniß hatte
und daß auch mehrere Personen seiner nächsten Umgebung davon wußten. Es
liegt nahe zu fragen, welche Maßregeln von ihnen getroffen wurden, um dem
bevorstehenden Aufstand zuvorzukommen? Gar keine. Alles war dem Zufall
überlassen. In Gesellschaften, im Kreise der Offiziere waren Gerüchte in
Umlauf, die sich oft widersprachen; man raisonnirte über das Testament
Alexander's, man urtheilte über das unantastbare Recht Constantin's, über
die Großmuth Nikolaus', der laut Testament das vollkommene Recht auf
den Thron habe, ihn aber nicht besteigen wolle, um dem Rechte seines älte¬
ren Bruders nicht zu nahe zu treten. Nikolaus glaubte nach seinem eigenen
Geständniß, daß er die Liebe des Volkes und der Truppen nicht besitze.

Am 6. December bezog ich die innere Wache im Winterpalast. Wie an
Feiertagen gewöhnlich, standen lange Reihen von Gratulanten. Hofchargen
und Militärs in den Sälen, um die kaiserliche Familie beim Vorübergehen
in die Kirche zu begrüßen. Man hörte keine Gespräche, einzelne Gruppen
traten zusammen und flüsterten einander ängstlich in die Ohren. — Am 10.
December Abends erhielt ich ein Billet von einem DieTistcameraden Capitän


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[0117] Rücksicht zu beseitigen. Ich kann behaupten, daß mit der Veröffentlichung des Testaments am 27. November Alle unweigerlich dem Großfürsten Niko¬ laus gehuldigt haben würden; wenigstens hätte der Aufstand nicht die zweite Eidesleistung zum Vorwand gehabt, jene Eidesleistung, welche den vor sechs¬ zehn Tagen geschworenen Eid auflöste und zugleich erwies, daß der Wille Alexander's nicht berücksichtigt worden war, wie es den bestehenden Gesetzen gemäß hätte geschehen müssen. Vom 27. November bis zum 14. December währte das Interregnum oder Zwischenreich. Dieser Zeitabschnitt ist nachträglich durch ein Manifest aus der Welt geschafft worden, welches anordnete, den Tag der Thronbestei¬ gung des Kaisers Nikolaus am 19. November, als dem Todestage Alexanders, zu feiern. — Der Großfürst Constantin, dem das ganze Reich huldigte, blieb ruhig in Warschau, fest in seinem Entschluß der Thronentsagung; er empfing keine Beglückwünschungen, er entsiegelte kein Paket der Minister, weil die Aufschrift seinem Namen den kaiserlichen Titel hinzufügte. — Der Großfürst Michael war dem neuen Kaiser entgegengesandt worden; er war¬ tete auf der livländischen Station Umnak auf dessen Ankunft, oder auf eine genaue Nachricht über dessen Entsagung. In Petersburg war Alles ver¬ stummt inmitten peinlicher Erwartung und Ungewißheit: keine Musik er¬ tönte aus den Wachparaden, die Frauen der höheren und mittleren Stände trugen Trauerkleider, in allen Kirchen sang man Todtenmessen, Niemand konnte sich der allgemeinen Niedergeschlagenheit entziehen. — Ich habe schon gesagt, daß der Großfürst Nikolaus von dem Bestehen der geheimen Gesellschaft, von deren Zweck und Mitgliedern Kenntniß hatte und daß auch mehrere Personen seiner nächsten Umgebung davon wußten. Es liegt nahe zu fragen, welche Maßregeln von ihnen getroffen wurden, um dem bevorstehenden Aufstand zuvorzukommen? Gar keine. Alles war dem Zufall überlassen. In Gesellschaften, im Kreise der Offiziere waren Gerüchte in Umlauf, die sich oft widersprachen; man raisonnirte über das Testament Alexander's, man urtheilte über das unantastbare Recht Constantin's, über die Großmuth Nikolaus', der laut Testament das vollkommene Recht auf den Thron habe, ihn aber nicht besteigen wolle, um dem Rechte seines älte¬ ren Bruders nicht zu nahe zu treten. Nikolaus glaubte nach seinem eigenen Geständniß, daß er die Liebe des Volkes und der Truppen nicht besitze. Am 6. December bezog ich die innere Wache im Winterpalast. Wie an Feiertagen gewöhnlich, standen lange Reihen von Gratulanten. Hofchargen und Militärs in den Sälen, um die kaiserliche Familie beim Vorübergehen in die Kirche zu begrüßen. Man hörte keine Gespräche, einzelne Gruppen traten zusammen und flüsterten einander ängstlich in die Ohren. — Am 10. December Abends erhielt ich ein Billet von einem DieTistcameraden Capitän

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/117>, abgerufen am 05.02.2025.