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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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flössen über seine und vieler Soldaten Wangen, besonders derjenigen, welche
mit Alexander in den französisch-deutschen Feldzügen gekämpft hatten und die
er darum immer nur seine lieben Dienstkameraden genannt. Auf Befehl er¬
schallte das Hurrah des Regiments und wir gingen friedlich, aber betrübt in
unsere Casernen. Mit denselben Gefühlen leisteten alle übrigen Garde-Regi¬
menter den Eid; die Betrübniß überwältigte jedes andere Gefühl. Die Vor¬
gesetzten und die Untergebenen würden ebenso ruhig und unweigerlich dem
Großfürsten Nikolaus den Eid geleistet haben, wenn der Wille Alexanders
ihnen auf eine gesetzliche Weise mitgetheilt worden wäre.

Im Winterpalast war die Trauerbotschaft in demselben Augenblicke an¬
gelangt, in welchem man ein Dankgebet für die angebliche Wiederherstellung der
Gesundheit Alexanders sang. Der Großfürst Nikolaus entschloß sich sogleich, dem
in Warschau weilenden Großfürsten Constantin den Eid der Treue zu schwören,
und empfing persönlich die Eidesleistung für seinen ältern Bruder von
den inneren Wachen des Palastes. Graf Miloradowitsch und Fürst A. N.
Galitzin bemühten sich vergebens, ihn von dieser Handlung abzuhalten; sie
kannten den Inhalt des Testaments Alexander's; -- aber der Großfürst ließ
keine Einwendung gelten, sondern sagte kurz: "Wer mir nicht folgt und nicht
meinem ältern Bruder huldigt, der ist mein Feind und Feind des Vaterlan¬
des." Der Eid wurde überall im ganzen Reiche ohne den geringsten Wider¬
stand geleistet. Nichtsdestoweniger war allenthalben bekannt geworden, daß
ein Testament Alexanders bestehe, welches Nikolaus die Regierung übertrage'
und daß Constantin verzichtet habe. Es lag wie ein Alp auf der öffentlichen
Stimmung. Täglich tauchten falsche Gerüchte, Muthmaßungen und Erwar¬
tungen auf, die die Gesellschaft ängstigten und aufregten. Die Mitglieder
des Reichsrathes wußten seit dem Jahre 1823, daß in ihrem Archiv das
Testament Alexander's mit dessen eigenhändiger Aufschrift: "Aufzubewahren
bis zu meiner Aufforderung, aber im Falle meines Todes vor jeder andern
Handlung zu erbrechen" lag. Von diesem Testament waren Copien in den
Archiven des Senats, des Synods und der Uspenski'schen Cathedrale in Mos¬
kau zur Aufbewahrung niedergelegt. Es fragt sich, wem die Schuld dieser
unheilvollen Maßregel zuzumessen ist: Alexander, der zu seinen Lebzeiten den
Thronverzicht Constantin's zu veröffentlichen unterlassen hatte, -- dem Reichs¬
rath, der seine Pflicht nicht erfüllte, -- oder dem Großfürsten Nikolaus. Viel¬
leicht wünschte dieser jeder Veranlassung zu Unruhen und Unzufriedenheit
vorzubeugen, da er früher, als die Nachricht von Alexander's Tode ankam,
um das Bestehen und das Ziel der geheimen Gesellschaften und die Namen
eines großen Theiles ihrer Mitglieder wußte. Als Privatleute mögen alle
Betheiligten durch ihre Beweggründe gerechtfertigt werden können, politisch
nicht; sie waren verpflichtet nach dem Gesetz zu handeln und jede persönliche


flössen über seine und vieler Soldaten Wangen, besonders derjenigen, welche
mit Alexander in den französisch-deutschen Feldzügen gekämpft hatten und die
er darum immer nur seine lieben Dienstkameraden genannt. Auf Befehl er¬
schallte das Hurrah des Regiments und wir gingen friedlich, aber betrübt in
unsere Casernen. Mit denselben Gefühlen leisteten alle übrigen Garde-Regi¬
menter den Eid; die Betrübniß überwältigte jedes andere Gefühl. Die Vor¬
gesetzten und die Untergebenen würden ebenso ruhig und unweigerlich dem
Großfürsten Nikolaus den Eid geleistet haben, wenn der Wille Alexanders
ihnen auf eine gesetzliche Weise mitgetheilt worden wäre.

Im Winterpalast war die Trauerbotschaft in demselben Augenblicke an¬
gelangt, in welchem man ein Dankgebet für die angebliche Wiederherstellung der
Gesundheit Alexanders sang. Der Großfürst Nikolaus entschloß sich sogleich, dem
in Warschau weilenden Großfürsten Constantin den Eid der Treue zu schwören,
und empfing persönlich die Eidesleistung für seinen ältern Bruder von
den inneren Wachen des Palastes. Graf Miloradowitsch und Fürst A. N.
Galitzin bemühten sich vergebens, ihn von dieser Handlung abzuhalten; sie
kannten den Inhalt des Testaments Alexander's; — aber der Großfürst ließ
keine Einwendung gelten, sondern sagte kurz: „Wer mir nicht folgt und nicht
meinem ältern Bruder huldigt, der ist mein Feind und Feind des Vaterlan¬
des." Der Eid wurde überall im ganzen Reiche ohne den geringsten Wider¬
stand geleistet. Nichtsdestoweniger war allenthalben bekannt geworden, daß
ein Testament Alexanders bestehe, welches Nikolaus die Regierung übertrage'
und daß Constantin verzichtet habe. Es lag wie ein Alp auf der öffentlichen
Stimmung. Täglich tauchten falsche Gerüchte, Muthmaßungen und Erwar¬
tungen auf, die die Gesellschaft ängstigten und aufregten. Die Mitglieder
des Reichsrathes wußten seit dem Jahre 1823, daß in ihrem Archiv das
Testament Alexander's mit dessen eigenhändiger Aufschrift: „Aufzubewahren
bis zu meiner Aufforderung, aber im Falle meines Todes vor jeder andern
Handlung zu erbrechen" lag. Von diesem Testament waren Copien in den
Archiven des Senats, des Synods und der Uspenski'schen Cathedrale in Mos¬
kau zur Aufbewahrung niedergelegt. Es fragt sich, wem die Schuld dieser
unheilvollen Maßregel zuzumessen ist: Alexander, der zu seinen Lebzeiten den
Thronverzicht Constantin's zu veröffentlichen unterlassen hatte, — dem Reichs¬
rath, der seine Pflicht nicht erfüllte, — oder dem Großfürsten Nikolaus. Viel¬
leicht wünschte dieser jeder Veranlassung zu Unruhen und Unzufriedenheit
vorzubeugen, da er früher, als die Nachricht von Alexander's Tode ankam,
um das Bestehen und das Ziel der geheimen Gesellschaften und die Namen
eines großen Theiles ihrer Mitglieder wußte. Als Privatleute mögen alle
Betheiligten durch ihre Beweggründe gerechtfertigt werden können, politisch
nicht; sie waren verpflichtet nach dem Gesetz zu handeln und jede persönliche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/116>, abgerufen am 05.02.2025.