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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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mischen Geschichte und der Vorfälle des gewöhnlichen täglichen Lebens zu
gebrauchen gelernt hatte, verstanden es geistliche und weltliche Leute im
Norden (die letzteren waren meist nichts anderes, als was nach damaliger und
jetziger Auffassung etwa ein großer Bauer sein würde), sehr wohl, Weltgeschichte
und Specialgeschichte in ihrer Zunge darzustellen. Die Specialgeschichte
mußte sich aber wegen des engen Gesichtskreises ihrer Heimath und der un¬
endlichen Concurrenz der sich damit Beschäftigenden so sehr specialisiren, daß
häufig eine Familiengeschichte, ja oft Haus- und Privatgeschichte daraus
wurde, wie sie allenfalls zur Epoche der blühenden Tagebücherfabrication
auch bei uns der Feder anvertraut zu werden pflegte, aber doch nur zum
stillen Gebrauche des Schreibers selbst und höchstens seiner engsten Vertrau¬
ten. Dort aber war das Alles für die Oeffentlichkeit bestimmt und aus diese
Art hat sich auch durch den Wechsel der Zeiten viel mehr davon erhalten,
als wenn es bloß in der Lade des Schreibers verschlossen geblieben wäre.
Dieser Gunst der Verhältnisse verdanken wir eine so ausreichende Kenntniß
des gesammten altnordischen Sprachmaterials, namentlich desjenigen, welches
die realistische Seite des menschlichen Daseins zu bezeichnen bestimmt ist. daß
wir hier vergleichungsweise über alle termini tecimiei der häuslichen Arbeit,
des Gewerbes, des täglichen Handels und Wandels besser unterrichtet sind,
als über dieselben Fächer aus dem Bereiche unserer eigenen Vorzeit.

Da sich der weitaus größte Theil der Runeninschriften auf solche Dinge
bezieht, auf Besitz, Geburt, Verwandtschaft des Einzelnen, aus Gebrauch
und Bestimmung vyn Geräthschaften u. s. w., so begreift es sich leicht,
daß hier ein gutes altnordisches Wörterbuch in den meisten Fällen aus¬
reicht. Mit seiner Hülfe mag man tausende solcher Nachrichten ebenso sicher
lesen, wie wir einen mittelhochdeutschen oder altprovenzalischen Text ver¬
stehen, natürlich immer vorausgesetzt, daß man sich die eigenthümlichen Züge
des Alphabets so eingeprägt hat, wie man etwa die musikalischen Notenzeichen
oder jedes fremde Alphabet sich fest einprägen muß, wenn man nicht fort¬
währende Noth mit den ersten Elementen alles weiteren Lernens haben will.

Was man nun aber aus diesen Runen herausliest, ist im Grunde nicht
von besonderem Belang. Auch hier wird man sich im Allgemeinen immer
durch eine gewisse respectvolle Ueberschätzung irre geführt sehen, für die in der
Sache selbst gar keine Veranlassung liegt, sondern allein in der phantastischen
Unklarheit derer, die hier etwas ganz Besonderes erwarten, weil sie unter
dem Bann der Zauberformel "es sind Runen" stehen, auch wenn sie anderen
gegenüber die vornehmste Miene kühler Bedächtigkeit anzunehmen für gut
finden. Wüßten wir außerdem nichts von altnordischen Leben und altnor¬
discher Geschichte, so würden uns diese Späne höchst willkommen, ja unschätz¬
bar sein. Besäßen wir nur auf unserem heimischen Boden, etwa aus der


mischen Geschichte und der Vorfälle des gewöhnlichen täglichen Lebens zu
gebrauchen gelernt hatte, verstanden es geistliche und weltliche Leute im
Norden (die letzteren waren meist nichts anderes, als was nach damaliger und
jetziger Auffassung etwa ein großer Bauer sein würde), sehr wohl, Weltgeschichte
und Specialgeschichte in ihrer Zunge darzustellen. Die Specialgeschichte
mußte sich aber wegen des engen Gesichtskreises ihrer Heimath und der un¬
endlichen Concurrenz der sich damit Beschäftigenden so sehr specialisiren, daß
häufig eine Familiengeschichte, ja oft Haus- und Privatgeschichte daraus
wurde, wie sie allenfalls zur Epoche der blühenden Tagebücherfabrication
auch bei uns der Feder anvertraut zu werden pflegte, aber doch nur zum
stillen Gebrauche des Schreibers selbst und höchstens seiner engsten Vertrau¬
ten. Dort aber war das Alles für die Oeffentlichkeit bestimmt und aus diese
Art hat sich auch durch den Wechsel der Zeiten viel mehr davon erhalten,
als wenn es bloß in der Lade des Schreibers verschlossen geblieben wäre.
Dieser Gunst der Verhältnisse verdanken wir eine so ausreichende Kenntniß
des gesammten altnordischen Sprachmaterials, namentlich desjenigen, welches
die realistische Seite des menschlichen Daseins zu bezeichnen bestimmt ist. daß
wir hier vergleichungsweise über alle termini tecimiei der häuslichen Arbeit,
des Gewerbes, des täglichen Handels und Wandels besser unterrichtet sind,
als über dieselben Fächer aus dem Bereiche unserer eigenen Vorzeit.

Da sich der weitaus größte Theil der Runeninschriften auf solche Dinge
bezieht, auf Besitz, Geburt, Verwandtschaft des Einzelnen, aus Gebrauch
und Bestimmung vyn Geräthschaften u. s. w., so begreift es sich leicht,
daß hier ein gutes altnordisches Wörterbuch in den meisten Fällen aus¬
reicht. Mit seiner Hülfe mag man tausende solcher Nachrichten ebenso sicher
lesen, wie wir einen mittelhochdeutschen oder altprovenzalischen Text ver¬
stehen, natürlich immer vorausgesetzt, daß man sich die eigenthümlichen Züge
des Alphabets so eingeprägt hat, wie man etwa die musikalischen Notenzeichen
oder jedes fremde Alphabet sich fest einprägen muß, wenn man nicht fort¬
währende Noth mit den ersten Elementen alles weiteren Lernens haben will.

Was man nun aber aus diesen Runen herausliest, ist im Grunde nicht
von besonderem Belang. Auch hier wird man sich im Allgemeinen immer
durch eine gewisse respectvolle Ueberschätzung irre geführt sehen, für die in der
Sache selbst gar keine Veranlassung liegt, sondern allein in der phantastischen
Unklarheit derer, die hier etwas ganz Besonderes erwarten, weil sie unter
dem Bann der Zauberformel „es sind Runen" stehen, auch wenn sie anderen
gegenüber die vornehmste Miene kühler Bedächtigkeit anzunehmen für gut
finden. Wüßten wir außerdem nichts von altnordischen Leben und altnor¬
discher Geschichte, so würden uns diese Späne höchst willkommen, ja unschätz¬
bar sein. Besäßen wir nur auf unserem heimischen Boden, etwa aus der


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[0098] mischen Geschichte und der Vorfälle des gewöhnlichen täglichen Lebens zu gebrauchen gelernt hatte, verstanden es geistliche und weltliche Leute im Norden (die letzteren waren meist nichts anderes, als was nach damaliger und jetziger Auffassung etwa ein großer Bauer sein würde), sehr wohl, Weltgeschichte und Specialgeschichte in ihrer Zunge darzustellen. Die Specialgeschichte mußte sich aber wegen des engen Gesichtskreises ihrer Heimath und der un¬ endlichen Concurrenz der sich damit Beschäftigenden so sehr specialisiren, daß häufig eine Familiengeschichte, ja oft Haus- und Privatgeschichte daraus wurde, wie sie allenfalls zur Epoche der blühenden Tagebücherfabrication auch bei uns der Feder anvertraut zu werden pflegte, aber doch nur zum stillen Gebrauche des Schreibers selbst und höchstens seiner engsten Vertrau¬ ten. Dort aber war das Alles für die Oeffentlichkeit bestimmt und aus diese Art hat sich auch durch den Wechsel der Zeiten viel mehr davon erhalten, als wenn es bloß in der Lade des Schreibers verschlossen geblieben wäre. Dieser Gunst der Verhältnisse verdanken wir eine so ausreichende Kenntniß des gesammten altnordischen Sprachmaterials, namentlich desjenigen, welches die realistische Seite des menschlichen Daseins zu bezeichnen bestimmt ist. daß wir hier vergleichungsweise über alle termini tecimiei der häuslichen Arbeit, des Gewerbes, des täglichen Handels und Wandels besser unterrichtet sind, als über dieselben Fächer aus dem Bereiche unserer eigenen Vorzeit. Da sich der weitaus größte Theil der Runeninschriften auf solche Dinge bezieht, auf Besitz, Geburt, Verwandtschaft des Einzelnen, aus Gebrauch und Bestimmung vyn Geräthschaften u. s. w., so begreift es sich leicht, daß hier ein gutes altnordisches Wörterbuch in den meisten Fällen aus¬ reicht. Mit seiner Hülfe mag man tausende solcher Nachrichten ebenso sicher lesen, wie wir einen mittelhochdeutschen oder altprovenzalischen Text ver¬ stehen, natürlich immer vorausgesetzt, daß man sich die eigenthümlichen Züge des Alphabets so eingeprägt hat, wie man etwa die musikalischen Notenzeichen oder jedes fremde Alphabet sich fest einprägen muß, wenn man nicht fort¬ währende Noth mit den ersten Elementen alles weiteren Lernens haben will. Was man nun aber aus diesen Runen herausliest, ist im Grunde nicht von besonderem Belang. Auch hier wird man sich im Allgemeinen immer durch eine gewisse respectvolle Ueberschätzung irre geführt sehen, für die in der Sache selbst gar keine Veranlassung liegt, sondern allein in der phantastischen Unklarheit derer, die hier etwas ganz Besonderes erwarten, weil sie unter dem Bann der Zauberformel „es sind Runen" stehen, auch wenn sie anderen gegenüber die vornehmste Miene kühler Bedächtigkeit anzunehmen für gut finden. Wüßten wir außerdem nichts von altnordischen Leben und altnor¬ discher Geschichte, so würden uns diese Späne höchst willkommen, ja unschätz¬ bar sein. Besäßen wir nur auf unserem heimischen Boden, etwa aus der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/98>, abgerufen am 08.01.2025.