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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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Zeit vom ersten Jahrhundert vor Christus bis zum achten nach Christus,
eine Suite authentischer, meist genau datirter Privatdenkmäler, unsere Alter¬
thumskunde könnte ein ganz andere Physiognomie zeigen. Und die angegebene
Zeit der deutschen Entwickelung ist ungefähr die mit der nordischen vom
9. bis 13 Jahre correspondirende. Denn es wäre eine wunderliche Denkcon-
fusion oder ein unbegreiflicher Mangel an allem Verständniß für das innere
Getriebe der Völkerentwickelung, wenn wir das was zufällig im Norden und
in Deutschland in einem und demselben Jahre geschehen ist, auch als innerlich
von gleichem Alter ansehen wollten. Der Norden ist in Folge gewisser
ganz durchsichtiger Einflüsse des weltgeschichtlichen Processes, aber auch in
Folge anderer einstweilen noch dunkeler und deshalb auch einstweilen
im Dunkel zu belassender Motive, die in dem besonderen Geistes- und
Seelenleben seines Volkes gelegen sein müssen, hinter seinen kontinentalen
Stammgenossen im Süden, dem eigentlich deutschen Volke, in der Haupt¬
sache um beinahe ein Jahrtausend in der Entwickelung zurück, und des¬
halb kann die chronologische Parallele, die eben gemacht worden ist, als
vollkommen zutreffend beobachtet werden, so paradox sie auch manchem er¬
scheinen mag, der die Heerstraße ererbter Vorurtheile und schablonenartiger
Geschichtsbegriffe selbstzufrieden einherwandelt. Erst am Ende des Mittel¬
alters, mit einem Worte wieder durch die Reformation ist jenes isolirte Nach¬
sinken hinter der übrigen europäischen Cultur einigermaßen ausgeglichen
worden, aber nur einigermaßen und keineswegs völlig. Hier ist nicht der
Ort, die möglichen Einwürfe gegen diese Ansicht, welche sich sehr leicht denken
lassen, zu widerlegen oder auch nur im Vorübergehen auf sie zu reflectiren.
Nur eines sei zur Verständigung noch hinzugefügt. Die obige Behauptung
läuft keineswegs darauf hinaus, dem Norden ein in seiner Art sehr
intensives Culturleben abzusprechen. Vom 9. bis 15. Jahrhundert hat es
dort in ihrer Art ebenso entwickelte und durchgebildete Zustände und Men¬
schen gegeben , wie nur irgend in 'einem anderen Culturlande des damaligen
Europas. Aber der Stoff, aus dem die nordische Cultur sich formte, ist
ein anderer, als der des übrigen mittelalterlichen Europas, es ist noch der
uralte, vorchristliche, wenn man will urgermanische, obgleich dagegen allerlei
Bedenken erhoben werden könnten, jedenfalls ein durchaus fremdartiger, ge¬
wissermaßen paläontologischer in einer Zeit, deren innigste Triebkräfte der
Katholicismus des Mittelalters, die populäre Tradition des römischen und
antiken Wesens und die Romantik des Orients geworden waren.

Wir lernen also, um wieder einzulenken, aus diesen Runen nicht viel,
was wir nicht außerdem aus der so unendlich reichen Literatur, aus den
zahlreichen Urkunden und schriftlichen Zeugnissen aller Art ebenso gut, ge¬
wöhnlich besser und genauer wüßten. Und was wir nicht aus diesen wissen,


Zeit vom ersten Jahrhundert vor Christus bis zum achten nach Christus,
eine Suite authentischer, meist genau datirter Privatdenkmäler, unsere Alter¬
thumskunde könnte ein ganz andere Physiognomie zeigen. Und die angegebene
Zeit der deutschen Entwickelung ist ungefähr die mit der nordischen vom
9. bis 13 Jahre correspondirende. Denn es wäre eine wunderliche Denkcon-
fusion oder ein unbegreiflicher Mangel an allem Verständniß für das innere
Getriebe der Völkerentwickelung, wenn wir das was zufällig im Norden und
in Deutschland in einem und demselben Jahre geschehen ist, auch als innerlich
von gleichem Alter ansehen wollten. Der Norden ist in Folge gewisser
ganz durchsichtiger Einflüsse des weltgeschichtlichen Processes, aber auch in
Folge anderer einstweilen noch dunkeler und deshalb auch einstweilen
im Dunkel zu belassender Motive, die in dem besonderen Geistes- und
Seelenleben seines Volkes gelegen sein müssen, hinter seinen kontinentalen
Stammgenossen im Süden, dem eigentlich deutschen Volke, in der Haupt¬
sache um beinahe ein Jahrtausend in der Entwickelung zurück, und des¬
halb kann die chronologische Parallele, die eben gemacht worden ist, als
vollkommen zutreffend beobachtet werden, so paradox sie auch manchem er¬
scheinen mag, der die Heerstraße ererbter Vorurtheile und schablonenartiger
Geschichtsbegriffe selbstzufrieden einherwandelt. Erst am Ende des Mittel¬
alters, mit einem Worte wieder durch die Reformation ist jenes isolirte Nach¬
sinken hinter der übrigen europäischen Cultur einigermaßen ausgeglichen
worden, aber nur einigermaßen und keineswegs völlig. Hier ist nicht der
Ort, die möglichen Einwürfe gegen diese Ansicht, welche sich sehr leicht denken
lassen, zu widerlegen oder auch nur im Vorübergehen auf sie zu reflectiren.
Nur eines sei zur Verständigung noch hinzugefügt. Die obige Behauptung
läuft keineswegs darauf hinaus, dem Norden ein in seiner Art sehr
intensives Culturleben abzusprechen. Vom 9. bis 15. Jahrhundert hat es
dort in ihrer Art ebenso entwickelte und durchgebildete Zustände und Men¬
schen gegeben , wie nur irgend in 'einem anderen Culturlande des damaligen
Europas. Aber der Stoff, aus dem die nordische Cultur sich formte, ist
ein anderer, als der des übrigen mittelalterlichen Europas, es ist noch der
uralte, vorchristliche, wenn man will urgermanische, obgleich dagegen allerlei
Bedenken erhoben werden könnten, jedenfalls ein durchaus fremdartiger, ge¬
wissermaßen paläontologischer in einer Zeit, deren innigste Triebkräfte der
Katholicismus des Mittelalters, die populäre Tradition des römischen und
antiken Wesens und die Romantik des Orients geworden waren.

Wir lernen also, um wieder einzulenken, aus diesen Runen nicht viel,
was wir nicht außerdem aus der so unendlich reichen Literatur, aus den
zahlreichen Urkunden und schriftlichen Zeugnissen aller Art ebenso gut, ge¬
wöhnlich besser und genauer wüßten. Und was wir nicht aus diesen wissen,


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[0099] Zeit vom ersten Jahrhundert vor Christus bis zum achten nach Christus, eine Suite authentischer, meist genau datirter Privatdenkmäler, unsere Alter¬ thumskunde könnte ein ganz andere Physiognomie zeigen. Und die angegebene Zeit der deutschen Entwickelung ist ungefähr die mit der nordischen vom 9. bis 13 Jahre correspondirende. Denn es wäre eine wunderliche Denkcon- fusion oder ein unbegreiflicher Mangel an allem Verständniß für das innere Getriebe der Völkerentwickelung, wenn wir das was zufällig im Norden und in Deutschland in einem und demselben Jahre geschehen ist, auch als innerlich von gleichem Alter ansehen wollten. Der Norden ist in Folge gewisser ganz durchsichtiger Einflüsse des weltgeschichtlichen Processes, aber auch in Folge anderer einstweilen noch dunkeler und deshalb auch einstweilen im Dunkel zu belassender Motive, die in dem besonderen Geistes- und Seelenleben seines Volkes gelegen sein müssen, hinter seinen kontinentalen Stammgenossen im Süden, dem eigentlich deutschen Volke, in der Haupt¬ sache um beinahe ein Jahrtausend in der Entwickelung zurück, und des¬ halb kann die chronologische Parallele, die eben gemacht worden ist, als vollkommen zutreffend beobachtet werden, so paradox sie auch manchem er¬ scheinen mag, der die Heerstraße ererbter Vorurtheile und schablonenartiger Geschichtsbegriffe selbstzufrieden einherwandelt. Erst am Ende des Mittel¬ alters, mit einem Worte wieder durch die Reformation ist jenes isolirte Nach¬ sinken hinter der übrigen europäischen Cultur einigermaßen ausgeglichen worden, aber nur einigermaßen und keineswegs völlig. Hier ist nicht der Ort, die möglichen Einwürfe gegen diese Ansicht, welche sich sehr leicht denken lassen, zu widerlegen oder auch nur im Vorübergehen auf sie zu reflectiren. Nur eines sei zur Verständigung noch hinzugefügt. Die obige Behauptung läuft keineswegs darauf hinaus, dem Norden ein in seiner Art sehr intensives Culturleben abzusprechen. Vom 9. bis 15. Jahrhundert hat es dort in ihrer Art ebenso entwickelte und durchgebildete Zustände und Men¬ schen gegeben , wie nur irgend in 'einem anderen Culturlande des damaligen Europas. Aber der Stoff, aus dem die nordische Cultur sich formte, ist ein anderer, als der des übrigen mittelalterlichen Europas, es ist noch der uralte, vorchristliche, wenn man will urgermanische, obgleich dagegen allerlei Bedenken erhoben werden könnten, jedenfalls ein durchaus fremdartiger, ge¬ wissermaßen paläontologischer in einer Zeit, deren innigste Triebkräfte der Katholicismus des Mittelalters, die populäre Tradition des römischen und antiken Wesens und die Romantik des Orients geworden waren. Wir lernen also, um wieder einzulenken, aus diesen Runen nicht viel, was wir nicht außerdem aus der so unendlich reichen Literatur, aus den zahlreichen Urkunden und schriftlichen Zeugnissen aller Art ebenso gut, ge¬ wöhnlich besser und genauer wüßten. Und was wir nicht aus diesen wissen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/99>, abgerufen am 25.07.2024.