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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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Das nämliche gilt im Ganzen auch von den relativ weniger zahlreichen,
an sich aber doch noch immer durch ihre Masse respectabeln Runeninschriften,
die sich aus anderen Gegenständen als aus Grabsteinen, auf den Denkmälern
historischer Ereignisse, auf Münzen, Medaillen, Schmuck und Kleidungsuten-
silien, Gerathen des häuslichen und öffentlichen Lebens, namentlich Waffen
und dergleichen finden. Auch sie sind durchschnittlich nicht correcter geschrie¬
ben wie die Grabsteine und das Material bietet dem späteren Leser begreif¬
lich oft größere Schwierigkeiten durch die Zerstörung oder Veränderung, die
es erlitt, als der unverwüstliche Stein, an welchem höchstens einige bescheidene
Flechten und Moose, wie sie die dürftige Vegetation des Nordens erzeugt,
die Züge des Meißels verdecken, aber nicht verlöschen können.

So macht denn die sprachliche Erklärung hier überall geringere Schwie¬
rigkeiten, als es sich die der Sache ferner Stehenden vorstellen. Der Name
"Runen" pflegt solchen Respect einzuflößen, daß man im Allgemeinen glaubt,
alles was damit geschrieben ist, sei ein Buch mit sieben Siegeln, an denen
vergeblich der Scharfsinn oder die Spitzfindigkeit gelehrten Dünkels herum-
nestele. Die Siegel sind sehr leicht zu lösen, wenn man nur den richtigen
Schmelzapparat besitzt und dieser ist wieder sehr leicht zu beschaffen, weil da¬
zu nichts weiter gehört als eine genügende Kenntniß der altnordischen Sprache
vom 9. bis 16. Jahrhundert. Gerade in dieser Periode aber besitzt die Sprache
des Nordens eine Literatur von so großem Umfang wie keine andere der da¬
maligen Volkssprachen Europas. Die Isländer, die bekanntlich bald für den
ganzen Norden das Amt der Gelehrten und Literaten übernahmen, waren die
schreibseligsten aller Menschen in ihrer Zeit, ja eigentlich ebenso federfertig
als es der modernste Federfuchser von Profession nur sein kann. Sie respectir-
ten, wie es scheint, kein anderes Hinderniß in ihrem wahrhaft fanatischen Eifer,
alles und jedes auf's Papier oder vielmehr in früherer Zeit auf ihr Pergament
aus Schaffell zu bringen, als den für ihren magern Geldbeutel sehr lästigen'Preis
der dazu nöthigen Utensilien. "Las hätten sie auch in den zehn Monaten
ihres Winters anders beginnen können, wo alle Arbeit im Freien von selbst
unmöglich war? Politik d. h. die Landes- und Communialangelegenheiten und
Literatur, darum drehte sich bald das ganze Dasein aller Gebildeten, und ge¬
bildet waren in dieser wunderlichen Jnselrepublik fast alle, weil alle, wenig¬
stens wenn sie frei geboren waren, auch social einander gleich standen.
Wollten sie nicht an Langeweile ersticken, so mußten sie wohl zur Feder
greifen.

Dieser altnordischen Literatur der Periode, die nach Jahreszahlen
unserem Mittelalter entspricht, ist es unter anderem auch charakteristisch, daß
sie weitaus überwiegend eine Prosaliteratur ist. Zu einer Zeit, wo noch kein
anderes europäisches Volk seine Muttersprache zur Darstellung seiner einhei-


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Das nämliche gilt im Ganzen auch von den relativ weniger zahlreichen,
an sich aber doch noch immer durch ihre Masse respectabeln Runeninschriften,
die sich aus anderen Gegenständen als aus Grabsteinen, auf den Denkmälern
historischer Ereignisse, auf Münzen, Medaillen, Schmuck und Kleidungsuten-
silien, Gerathen des häuslichen und öffentlichen Lebens, namentlich Waffen
und dergleichen finden. Auch sie sind durchschnittlich nicht correcter geschrie¬
ben wie die Grabsteine und das Material bietet dem späteren Leser begreif¬
lich oft größere Schwierigkeiten durch die Zerstörung oder Veränderung, die
es erlitt, als der unverwüstliche Stein, an welchem höchstens einige bescheidene
Flechten und Moose, wie sie die dürftige Vegetation des Nordens erzeugt,
die Züge des Meißels verdecken, aber nicht verlöschen können.

So macht denn die sprachliche Erklärung hier überall geringere Schwie¬
rigkeiten, als es sich die der Sache ferner Stehenden vorstellen. Der Name
„Runen" pflegt solchen Respect einzuflößen, daß man im Allgemeinen glaubt,
alles was damit geschrieben ist, sei ein Buch mit sieben Siegeln, an denen
vergeblich der Scharfsinn oder die Spitzfindigkeit gelehrten Dünkels herum-
nestele. Die Siegel sind sehr leicht zu lösen, wenn man nur den richtigen
Schmelzapparat besitzt und dieser ist wieder sehr leicht zu beschaffen, weil da¬
zu nichts weiter gehört als eine genügende Kenntniß der altnordischen Sprache
vom 9. bis 16. Jahrhundert. Gerade in dieser Periode aber besitzt die Sprache
des Nordens eine Literatur von so großem Umfang wie keine andere der da¬
maligen Volkssprachen Europas. Die Isländer, die bekanntlich bald für den
ganzen Norden das Amt der Gelehrten und Literaten übernahmen, waren die
schreibseligsten aller Menschen in ihrer Zeit, ja eigentlich ebenso federfertig
als es der modernste Federfuchser von Profession nur sein kann. Sie respectir-
ten, wie es scheint, kein anderes Hinderniß in ihrem wahrhaft fanatischen Eifer,
alles und jedes auf's Papier oder vielmehr in früherer Zeit auf ihr Pergament
aus Schaffell zu bringen, als den für ihren magern Geldbeutel sehr lästigen'Preis
der dazu nöthigen Utensilien. «Las hätten sie auch in den zehn Monaten
ihres Winters anders beginnen können, wo alle Arbeit im Freien von selbst
unmöglich war? Politik d. h. die Landes- und Communialangelegenheiten und
Literatur, darum drehte sich bald das ganze Dasein aller Gebildeten, und ge¬
bildet waren in dieser wunderlichen Jnselrepublik fast alle, weil alle, wenig¬
stens wenn sie frei geboren waren, auch social einander gleich standen.
Wollten sie nicht an Langeweile ersticken, so mußten sie wohl zur Feder
greifen.

Dieser altnordischen Literatur der Periode, die nach Jahreszahlen
unserem Mittelalter entspricht, ist es unter anderem auch charakteristisch, daß
sie weitaus überwiegend eine Prosaliteratur ist. Zu einer Zeit, wo noch kein
anderes europäisches Volk seine Muttersprache zur Darstellung seiner einhei-


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[0097] Das nämliche gilt im Ganzen auch von den relativ weniger zahlreichen, an sich aber doch noch immer durch ihre Masse respectabeln Runeninschriften, die sich aus anderen Gegenständen als aus Grabsteinen, auf den Denkmälern historischer Ereignisse, auf Münzen, Medaillen, Schmuck und Kleidungsuten- silien, Gerathen des häuslichen und öffentlichen Lebens, namentlich Waffen und dergleichen finden. Auch sie sind durchschnittlich nicht correcter geschrie¬ ben wie die Grabsteine und das Material bietet dem späteren Leser begreif¬ lich oft größere Schwierigkeiten durch die Zerstörung oder Veränderung, die es erlitt, als der unverwüstliche Stein, an welchem höchstens einige bescheidene Flechten und Moose, wie sie die dürftige Vegetation des Nordens erzeugt, die Züge des Meißels verdecken, aber nicht verlöschen können. So macht denn die sprachliche Erklärung hier überall geringere Schwie¬ rigkeiten, als es sich die der Sache ferner Stehenden vorstellen. Der Name „Runen" pflegt solchen Respect einzuflößen, daß man im Allgemeinen glaubt, alles was damit geschrieben ist, sei ein Buch mit sieben Siegeln, an denen vergeblich der Scharfsinn oder die Spitzfindigkeit gelehrten Dünkels herum- nestele. Die Siegel sind sehr leicht zu lösen, wenn man nur den richtigen Schmelzapparat besitzt und dieser ist wieder sehr leicht zu beschaffen, weil da¬ zu nichts weiter gehört als eine genügende Kenntniß der altnordischen Sprache vom 9. bis 16. Jahrhundert. Gerade in dieser Periode aber besitzt die Sprache des Nordens eine Literatur von so großem Umfang wie keine andere der da¬ maligen Volkssprachen Europas. Die Isländer, die bekanntlich bald für den ganzen Norden das Amt der Gelehrten und Literaten übernahmen, waren die schreibseligsten aller Menschen in ihrer Zeit, ja eigentlich ebenso federfertig als es der modernste Federfuchser von Profession nur sein kann. Sie respectir- ten, wie es scheint, kein anderes Hinderniß in ihrem wahrhaft fanatischen Eifer, alles und jedes auf's Papier oder vielmehr in früherer Zeit auf ihr Pergament aus Schaffell zu bringen, als den für ihren magern Geldbeutel sehr lästigen'Preis der dazu nöthigen Utensilien. «Las hätten sie auch in den zehn Monaten ihres Winters anders beginnen können, wo alle Arbeit im Freien von selbst unmöglich war? Politik d. h. die Landes- und Communialangelegenheiten und Literatur, darum drehte sich bald das ganze Dasein aller Gebildeten, und ge¬ bildet waren in dieser wunderlichen Jnselrepublik fast alle, weil alle, wenig¬ stens wenn sie frei geboren waren, auch social einander gleich standen. Wollten sie nicht an Langeweile ersticken, so mußten sie wohl zur Feder greifen. Dieser altnordischen Literatur der Periode, die nach Jahreszahlen unserem Mittelalter entspricht, ist es unter anderem auch charakteristisch, daß sie weitaus überwiegend eine Prosaliteratur ist. Zu einer Zeit, wo noch kein anderes europäisches Volk seine Muttersprache zur Darstellung seiner einhei- 11"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/97>, abgerufen am 08.01.2025.