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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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Wie viel günstiger steht es in dieser Hinsicht mit den Runen! Welcher
Sprache sie angehörten, war von Anfang an nicht zweifelhaft. Als man
schon im 16. Jahrhundert in Schweden und in Deutschland, ja sogar schon
am Ende des 13., -- wie der Polyhistor Trithemius beweist -- auf sie auf¬
merksam wurde, waren die letzten Grabsteine, auf denen sie zu gewöhnlichen
Enkomien massenhaft angewandt wurden, im Norden, d. h. in einem großen
Theile Norwegens und in einigen abgelegenen Thälern Schweden höchstens
dreißig Jahre früher eingemeißelt worden; der jüngste bis jetzt aufgefundene,
unzweifelhaft ächt datirte Runenstein stammt aus dem Jahre 1468, wahr¬
scheinlich giebt es noch viel jüngere. Jedenfalls brauchte man damals kein
Gelehrter zu sein, um diese Grabschriften zu lesen. So gut wie solche heut
zu Tage in der Absicht verfertigt werden, daß möglichst viele etwas von den Ver¬
diensten des Entschlafenen vernehmen sollen, so ist es auch im Norden ge¬
schehen. , Für zwei, drei Antiquare haben die Dorfsteinmetzen dort so wenig
wie irgend wo anders in der Welt gearbeitet, sondern für das große Pub¬
likum, zu dem sie selber gehörten. Und wenn es sich auch von selbst versteht,
daß das immer seltenere Vorkommen solcher Runensteine und endlich ihr
gänzliches Verschwinden zugleich ein immer dünner gewordenes Publikum
von Lesern bedeutet, so mußte sich doch schon aus den natürlichsten Motiven
der Familienpietät und des Familienstolzes namentlich in einer Bauernwelt,
wie die nordische von jeher war und immer geblieben ist, das traditionelle
Verständniß der einmal vorhandenen, durch den unverwüstlichen Granit
gegen jede Zerstörung so ausgezeichnet gesicherten Steine weit über die Zeit
hinaus erhalten, wo man es aus praktischen Gründen für gut fand, die Ge¬
fühle des Lebenden für die Todten in einer modernen allgemein bekannten
Schrift auszudrücken. Man sieht auch auf den ersten Blick, daß es die Refor¬
mation mit ihrem sie überall hin begleitenden Schul- d. h. zunächst dem Lese- und
Schreibunterricht gewesen ist, welche den Runen den Garaus machen mußte,
nachdem sie schon ein paar Jahrhunderte laög einen immer ungleichen Kampf
gegen das vom Süden her importirte lateinische Alphabet, das allgemeine Be-
si'tzthum aller civilisirten Völker Europas, bestanden hatten.

Freilich darf man sich von der orthographischen Durchbildung dieser nor¬
dischen Steinmetzen keine hohe Vorstellung machen. Alles was Naturalisten
in diesem Gebiete an Fehlern und Marotten zu leisten pflegen, haben sie nach
Kräften geleistet und es dadurch hier und dort glücklich dahin gebracht, das
was sie sagen oder schreiben wollen, nur sich selbst verständlich auszudrücken.
Aber diese Masse derartiger Denkmäler, von denen noch jetzt viele Tau¬
sende existiren, die Einfachheit und stereotype Formelhaftigkeit ihres Inhalts,
die sich bei den meisten nach ihrem Zwecke von selbst versteht, erlauben doch,
bei ihrer Erklärung die Möglichkeit des Irrthums innerhalb gewisser Gren¬
zen einzuschränken.


Wie viel günstiger steht es in dieser Hinsicht mit den Runen! Welcher
Sprache sie angehörten, war von Anfang an nicht zweifelhaft. Als man
schon im 16. Jahrhundert in Schweden und in Deutschland, ja sogar schon
am Ende des 13., — wie der Polyhistor Trithemius beweist — auf sie auf¬
merksam wurde, waren die letzten Grabsteine, auf denen sie zu gewöhnlichen
Enkomien massenhaft angewandt wurden, im Norden, d. h. in einem großen
Theile Norwegens und in einigen abgelegenen Thälern Schweden höchstens
dreißig Jahre früher eingemeißelt worden; der jüngste bis jetzt aufgefundene,
unzweifelhaft ächt datirte Runenstein stammt aus dem Jahre 1468, wahr¬
scheinlich giebt es noch viel jüngere. Jedenfalls brauchte man damals kein
Gelehrter zu sein, um diese Grabschriften zu lesen. So gut wie solche heut
zu Tage in der Absicht verfertigt werden, daß möglichst viele etwas von den Ver¬
diensten des Entschlafenen vernehmen sollen, so ist es auch im Norden ge¬
schehen. , Für zwei, drei Antiquare haben die Dorfsteinmetzen dort so wenig
wie irgend wo anders in der Welt gearbeitet, sondern für das große Pub¬
likum, zu dem sie selber gehörten. Und wenn es sich auch von selbst versteht,
daß das immer seltenere Vorkommen solcher Runensteine und endlich ihr
gänzliches Verschwinden zugleich ein immer dünner gewordenes Publikum
von Lesern bedeutet, so mußte sich doch schon aus den natürlichsten Motiven
der Familienpietät und des Familienstolzes namentlich in einer Bauernwelt,
wie die nordische von jeher war und immer geblieben ist, das traditionelle
Verständniß der einmal vorhandenen, durch den unverwüstlichen Granit
gegen jede Zerstörung so ausgezeichnet gesicherten Steine weit über die Zeit
hinaus erhalten, wo man es aus praktischen Gründen für gut fand, die Ge¬
fühle des Lebenden für die Todten in einer modernen allgemein bekannten
Schrift auszudrücken. Man sieht auch auf den ersten Blick, daß es die Refor¬
mation mit ihrem sie überall hin begleitenden Schul- d. h. zunächst dem Lese- und
Schreibunterricht gewesen ist, welche den Runen den Garaus machen mußte,
nachdem sie schon ein paar Jahrhunderte laög einen immer ungleichen Kampf
gegen das vom Süden her importirte lateinische Alphabet, das allgemeine Be-
si'tzthum aller civilisirten Völker Europas, bestanden hatten.

Freilich darf man sich von der orthographischen Durchbildung dieser nor¬
dischen Steinmetzen keine hohe Vorstellung machen. Alles was Naturalisten
in diesem Gebiete an Fehlern und Marotten zu leisten pflegen, haben sie nach
Kräften geleistet und es dadurch hier und dort glücklich dahin gebracht, das
was sie sagen oder schreiben wollen, nur sich selbst verständlich auszudrücken.
Aber diese Masse derartiger Denkmäler, von denen noch jetzt viele Tau¬
sende existiren, die Einfachheit und stereotype Formelhaftigkeit ihres Inhalts,
die sich bei den meisten nach ihrem Zwecke von selbst versteht, erlauben doch,
bei ihrer Erklärung die Möglichkeit des Irrthums innerhalb gewisser Gren¬
zen einzuschränken.


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[0096] Wie viel günstiger steht es in dieser Hinsicht mit den Runen! Welcher Sprache sie angehörten, war von Anfang an nicht zweifelhaft. Als man schon im 16. Jahrhundert in Schweden und in Deutschland, ja sogar schon am Ende des 13., — wie der Polyhistor Trithemius beweist — auf sie auf¬ merksam wurde, waren die letzten Grabsteine, auf denen sie zu gewöhnlichen Enkomien massenhaft angewandt wurden, im Norden, d. h. in einem großen Theile Norwegens und in einigen abgelegenen Thälern Schweden höchstens dreißig Jahre früher eingemeißelt worden; der jüngste bis jetzt aufgefundene, unzweifelhaft ächt datirte Runenstein stammt aus dem Jahre 1468, wahr¬ scheinlich giebt es noch viel jüngere. Jedenfalls brauchte man damals kein Gelehrter zu sein, um diese Grabschriften zu lesen. So gut wie solche heut zu Tage in der Absicht verfertigt werden, daß möglichst viele etwas von den Ver¬ diensten des Entschlafenen vernehmen sollen, so ist es auch im Norden ge¬ schehen. , Für zwei, drei Antiquare haben die Dorfsteinmetzen dort so wenig wie irgend wo anders in der Welt gearbeitet, sondern für das große Pub¬ likum, zu dem sie selber gehörten. Und wenn es sich auch von selbst versteht, daß das immer seltenere Vorkommen solcher Runensteine und endlich ihr gänzliches Verschwinden zugleich ein immer dünner gewordenes Publikum von Lesern bedeutet, so mußte sich doch schon aus den natürlichsten Motiven der Familienpietät und des Familienstolzes namentlich in einer Bauernwelt, wie die nordische von jeher war und immer geblieben ist, das traditionelle Verständniß der einmal vorhandenen, durch den unverwüstlichen Granit gegen jede Zerstörung so ausgezeichnet gesicherten Steine weit über die Zeit hinaus erhalten, wo man es aus praktischen Gründen für gut fand, die Ge¬ fühle des Lebenden für die Todten in einer modernen allgemein bekannten Schrift auszudrücken. Man sieht auch auf den ersten Blick, daß es die Refor¬ mation mit ihrem sie überall hin begleitenden Schul- d. h. zunächst dem Lese- und Schreibunterricht gewesen ist, welche den Runen den Garaus machen mußte, nachdem sie schon ein paar Jahrhunderte laög einen immer ungleichen Kampf gegen das vom Süden her importirte lateinische Alphabet, das allgemeine Be- si'tzthum aller civilisirten Völker Europas, bestanden hatten. Freilich darf man sich von der orthographischen Durchbildung dieser nor¬ dischen Steinmetzen keine hohe Vorstellung machen. Alles was Naturalisten in diesem Gebiete an Fehlern und Marotten zu leisten pflegen, haben sie nach Kräften geleistet und es dadurch hier und dort glücklich dahin gebracht, das was sie sagen oder schreiben wollen, nur sich selbst verständlich auszudrücken. Aber diese Masse derartiger Denkmäler, von denen noch jetzt viele Tau¬ sende existiren, die Einfachheit und stereotype Formelhaftigkeit ihres Inhalts, die sich bei den meisten nach ihrem Zwecke von selbst versteht, erlauben doch, bei ihrer Erklärung die Möglichkeit des Irrthums innerhalb gewisser Gren¬ zen einzuschränken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/96>, abgerufen am 07.01.2025.