Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.Der in Jerusalem sich aufhaltenden Juden darf um so weniger ver¬ Auch Karaimfamilien sind seit längerer Zeit hier; von ihren Stamm¬ Der in Jerusalem sich aufhaltenden Juden darf um so weniger ver¬ Auch Karaimfamilien sind seit längerer Zeit hier; von ihren Stamm¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0090" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/286802"/> <p xml:id="ID_230"> Der in Jerusalem sich aufhaltenden Juden darf um so weniger ver¬<lb/> gessen werden, als sie den größern Theil der Bevölkerung ausmachen; ihre<lb/> wie der Christen Zahl nimmt beträchtlich zu, während die der Moslimin<lb/> bemerkbar abnimmt. Die jüdischen Insassen haben sich seit dem Krimkriege<lb/> durch anhaltenden Zuzug aus Rußland und Oestreich, in den letzten Jahren<lb/> aus Nordafrika so vermehrt, daß man ihre Zahl zu beinahe 10,000 annehmen<lb/> kann. Die aus dem Norden und Osten Europas kommenden, ein freilich sehr<lb/> verstümmeltes Deutsch redenden Jsraeliten sind abgesehen von ihrer durch<lb/> Tradition und Talmud verschrobenen, auf. ihr ganzes Wesen und Denken<lb/> Einfluß übenden Begriffen, durchgängig sehr rechtschaffene, achtungswerthe<lb/> Leute; der größere Theil derselben muß sich bei der ungenügenden Unter¬<lb/> stützung, welche jedem Gliede der jüdischen Gemeinde aus den Steuern im<lb/> Auslande zufällt, kümmerlich durchschlagen. Manche jüngere Leute treiben<lb/> Gewerbe oder Handel und bringen sich und ihre zahlreichen Familien ehrlich<lb/> durch. Die nordafrikanischen Juden (Moghrebin), wie auch die eingeborenen,<lb/> Spanisch sprechenden Juden beschäftigen sich viel weniger als die Vorgenann¬<lb/> ten mit religiösen Dingen und Uebungen, ihre Gebetsversammlungen tragen<lb/> den Stempel großer Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit; für Handel und<lb/> Erwerb dagegen besitzen sie viel Geschick und großen Eifer, einige ihrer<lb/> Familien zählen zu den reichsten in der Stadt.</p><lb/> <p xml:id="ID_231" next="#ID_232"> Auch Karaimfamilien sind seit längerer Zeit hier; von ihren Stamm¬<lb/> genossen wegen ihrer ketzerischen Lehre (sie verwerfen den Talmud und nehmen<lb/> die Thora zur einzigen Richtschnur) vielfach beeinträchtigt, genießen sie hier,<lb/> wie anderswo, einen vortrefflichen Ruf; ihre Personen und Häuser sind<lb/> Muster von Reinlichkeit und Ordnung, — Tugenden, welche man den Asch-<lb/> kenasim leider nicht zusprechen kann. Politischen Einfluß besitzen die Juden<lb/> insofern, als in den verschiedenen Behörden auch jüdische Assessoren sind, die<lb/> öfters ihre Meinung zur Geltung zu bringen wissen. Ein großer Theil der<lb/> isralitischen Bevölkerung steht unter dem Schutz der Konsulate; der Consul<lb/> des norddeutschen Bundes z. B. wird von etwa 300 Juden als Protektor<lb/> angesehen und behufs Schlichtung ihrer zahllosen Streitigkeiten zur Genüge<lb/> angelaufen; das nach den endlosen und oft ins Abgeschmackte gehenden Tal¬<lb/> mudsatzungen entscheidende jüdische Gericht vermag nur zum kleinern Theil<lb/> den vielen, zwischen den einzelnen Gemeinden und Familien anhängigen<lb/> Streitigkeiten und Zänkereien ein Ende zu machen. Die hier wie in Hebron,<lb/> Tiberias und Safed wohnenden, nur mit „Lernen" d. h. Talmudstudium<lb/> sich beschäftigenden Juden, früher durch die Rohheit und Gewalt der Muha-<lb/> medaner gedrückt, heute infolge ihrer Ueberzahl in mancherlei Noth und Be-<lb/> drängniß steckend, sind Gegenstand großartiger Theilnahme der israelitischen<lb/> Gemeinschaften bis in die fernsten Gegenden hin; eine sehr beträchtliche</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0090]
Der in Jerusalem sich aufhaltenden Juden darf um so weniger ver¬
gessen werden, als sie den größern Theil der Bevölkerung ausmachen; ihre
wie der Christen Zahl nimmt beträchtlich zu, während die der Moslimin
bemerkbar abnimmt. Die jüdischen Insassen haben sich seit dem Krimkriege
durch anhaltenden Zuzug aus Rußland und Oestreich, in den letzten Jahren
aus Nordafrika so vermehrt, daß man ihre Zahl zu beinahe 10,000 annehmen
kann. Die aus dem Norden und Osten Europas kommenden, ein freilich sehr
verstümmeltes Deutsch redenden Jsraeliten sind abgesehen von ihrer durch
Tradition und Talmud verschrobenen, auf. ihr ganzes Wesen und Denken
Einfluß übenden Begriffen, durchgängig sehr rechtschaffene, achtungswerthe
Leute; der größere Theil derselben muß sich bei der ungenügenden Unter¬
stützung, welche jedem Gliede der jüdischen Gemeinde aus den Steuern im
Auslande zufällt, kümmerlich durchschlagen. Manche jüngere Leute treiben
Gewerbe oder Handel und bringen sich und ihre zahlreichen Familien ehrlich
durch. Die nordafrikanischen Juden (Moghrebin), wie auch die eingeborenen,
Spanisch sprechenden Juden beschäftigen sich viel weniger als die Vorgenann¬
ten mit religiösen Dingen und Uebungen, ihre Gebetsversammlungen tragen
den Stempel großer Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit; für Handel und
Erwerb dagegen besitzen sie viel Geschick und großen Eifer, einige ihrer
Familien zählen zu den reichsten in der Stadt.
Auch Karaimfamilien sind seit längerer Zeit hier; von ihren Stamm¬
genossen wegen ihrer ketzerischen Lehre (sie verwerfen den Talmud und nehmen
die Thora zur einzigen Richtschnur) vielfach beeinträchtigt, genießen sie hier,
wie anderswo, einen vortrefflichen Ruf; ihre Personen und Häuser sind
Muster von Reinlichkeit und Ordnung, — Tugenden, welche man den Asch-
kenasim leider nicht zusprechen kann. Politischen Einfluß besitzen die Juden
insofern, als in den verschiedenen Behörden auch jüdische Assessoren sind, die
öfters ihre Meinung zur Geltung zu bringen wissen. Ein großer Theil der
isralitischen Bevölkerung steht unter dem Schutz der Konsulate; der Consul
des norddeutschen Bundes z. B. wird von etwa 300 Juden als Protektor
angesehen und behufs Schlichtung ihrer zahllosen Streitigkeiten zur Genüge
angelaufen; das nach den endlosen und oft ins Abgeschmackte gehenden Tal¬
mudsatzungen entscheidende jüdische Gericht vermag nur zum kleinern Theil
den vielen, zwischen den einzelnen Gemeinden und Familien anhängigen
Streitigkeiten und Zänkereien ein Ende zu machen. Die hier wie in Hebron,
Tiberias und Safed wohnenden, nur mit „Lernen" d. h. Talmudstudium
sich beschäftigenden Juden, früher durch die Rohheit und Gewalt der Muha-
medaner gedrückt, heute infolge ihrer Ueberzahl in mancherlei Noth und Be-
drängniß steckend, sind Gegenstand großartiger Theilnahme der israelitischen
Gemeinschaften bis in die fernsten Gegenden hin; eine sehr beträchtliche
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