Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

Bild:
<< vorherige Seite

beleuchten aller Wissenschaft; aus diesem Grunde glaubt er sich berechtigt, den
Gesetzen der Naturwissenschaften eine ganz allgemeine Bedeutung vindiciren
zu können. Indeß zugegeben die Einheitlichkeit alles Wissens, ist es darum
selbstverständlich, daß die in einer speciellen Disciplin beobachteten Thatsachen
nothwendig auch in jeder andern vorauszusetzen sind? Ist es möglich, die
Gesetze der todten Materie ohne Weiteres auf das psychisch-ethische Gebiet
zu übertragen? Es ist klar, daß solch' metaphorisches Verfahren von höchst
zweifelhaftem Werthe ist. Analogien haben in der strengen Wissenschaft
immer ihre sehr mißliche Seite; statt einen Begriff aufzuhellen, verwischen
sie ihn in der Regel.

Vielfach ist Careys Originalität gerühmt worden. Ob dieselbe dem tie¬
feren Kerne seines Systems mit Recht zuzuschreiben, muß zum mindesten be¬
zweifelt werden. Im Grunde macht das Werk den Eindruck einer Combi¬
nation zweier längst überwundener Standpunkte, des Mercantilismus und
des Physiokratismus. Wer z. B. Careys Ansichten über Ackerbau und über
Geld betrachtet, der wird finden, daß jene ebenso sehr nach einer physiokrati-
schen Ueberschätzung des Bodens, wie diese nach einer mercantilischen Ueber¬
schätzung der edlen Metalle schmecken. An Careys Kritik der englischen Schule
mag die maßlose Heftigkeit der Polemik getrost als Eigenthümlichkeit betrach¬
tet werden. Soweit aber die Zurückweisung der britischen Ausschweifungen
wirklich am Platze war, ist sie schon von anderer Seite besorgt worden. Unsere
deutsche Wissenschaft bekennt sich nicht zu dem Dogma vom alleinseligmachen¬
den Freihandelsprineiv. Auch über die Auffassung der Menschheit als eines
leeren Abstractums sind wir längst hinaus: wir sind gewohnt, concretes
Volksthum zu würdigen, für die Gleichberechtigung der einzelnen Volkswirth¬
schaften haben wir vollkommenes Verständniß. -- Und endlich, wenn man
es Carey als Verdienst anrechnet, daß er an die Stelle der Analyse die Syn¬
these gesetzt habe, so halten wir auch hier entgegen, daß damit für Deutsch¬
land wenigstens keine neue Bahn eröffnet wurde.

Indeß es wäre ungerecht, wollte man bei Beurtheilung eines Schrift¬
stellers die Umstände übersehen, unter deren Einflüsse er schrieb, den Boden,
in welchem er wurzelt. Carey ist Amerikaner vom Scheitel bis zur Zehe.
Pessimistische Betrachtung und geringes Verständniß für vergangene
Jahrhunderte, Freiheit von historischen Prämissen, sanguinischer Optimismus
gegenüber der Zukunft, Kühnheit des Wagens, Ungebundenhett, ja Zü-
gellosigkeit, endlich Eisersucht und Haß gegen England -- all' diese Züge
des amerikanischen Volkscharakters sind auch als Eigenschaften des Carey'-
schen Standpunktes erkennbar. Es war ein großer Wurf, die Socialwissen¬
schaft nicht allein als ein in sich vollendetes Ganze synthetisch ausbauen,
sondern auch in organischer Einheitlichkeit mit allem übrigen Wissen begreifen


beleuchten aller Wissenschaft; aus diesem Grunde glaubt er sich berechtigt, den
Gesetzen der Naturwissenschaften eine ganz allgemeine Bedeutung vindiciren
zu können. Indeß zugegeben die Einheitlichkeit alles Wissens, ist es darum
selbstverständlich, daß die in einer speciellen Disciplin beobachteten Thatsachen
nothwendig auch in jeder andern vorauszusetzen sind? Ist es möglich, die
Gesetze der todten Materie ohne Weiteres auf das psychisch-ethische Gebiet
zu übertragen? Es ist klar, daß solch' metaphorisches Verfahren von höchst
zweifelhaftem Werthe ist. Analogien haben in der strengen Wissenschaft
immer ihre sehr mißliche Seite; statt einen Begriff aufzuhellen, verwischen
sie ihn in der Regel.

Vielfach ist Careys Originalität gerühmt worden. Ob dieselbe dem tie¬
feren Kerne seines Systems mit Recht zuzuschreiben, muß zum mindesten be¬
zweifelt werden. Im Grunde macht das Werk den Eindruck einer Combi¬
nation zweier längst überwundener Standpunkte, des Mercantilismus und
des Physiokratismus. Wer z. B. Careys Ansichten über Ackerbau und über
Geld betrachtet, der wird finden, daß jene ebenso sehr nach einer physiokrati-
schen Ueberschätzung des Bodens, wie diese nach einer mercantilischen Ueber¬
schätzung der edlen Metalle schmecken. An Careys Kritik der englischen Schule
mag die maßlose Heftigkeit der Polemik getrost als Eigenthümlichkeit betrach¬
tet werden. Soweit aber die Zurückweisung der britischen Ausschweifungen
wirklich am Platze war, ist sie schon von anderer Seite besorgt worden. Unsere
deutsche Wissenschaft bekennt sich nicht zu dem Dogma vom alleinseligmachen¬
den Freihandelsprineiv. Auch über die Auffassung der Menschheit als eines
leeren Abstractums sind wir längst hinaus: wir sind gewohnt, concretes
Volksthum zu würdigen, für die Gleichberechtigung der einzelnen Volkswirth¬
schaften haben wir vollkommenes Verständniß. — Und endlich, wenn man
es Carey als Verdienst anrechnet, daß er an die Stelle der Analyse die Syn¬
these gesetzt habe, so halten wir auch hier entgegen, daß damit für Deutsch¬
land wenigstens keine neue Bahn eröffnet wurde.

Indeß es wäre ungerecht, wollte man bei Beurtheilung eines Schrift¬
stellers die Umstände übersehen, unter deren Einflüsse er schrieb, den Boden,
in welchem er wurzelt. Carey ist Amerikaner vom Scheitel bis zur Zehe.
Pessimistische Betrachtung und geringes Verständniß für vergangene
Jahrhunderte, Freiheit von historischen Prämissen, sanguinischer Optimismus
gegenüber der Zukunft, Kühnheit des Wagens, Ungebundenhett, ja Zü-
gellosigkeit, endlich Eisersucht und Haß gegen England — all' diese Züge
des amerikanischen Volkscharakters sind auch als Eigenschaften des Carey'-
schen Standpunktes erkennbar. Es war ein großer Wurf, die Socialwissen¬
schaft nicht allein als ein in sich vollendetes Ganze synthetisch ausbauen,
sondern auch in organischer Einheitlichkeit mit allem übrigen Wissen begreifen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0080" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/286792"/>
          <p xml:id="ID_205" prev="#ID_204"> beleuchten aller Wissenschaft; aus diesem Grunde glaubt er sich berechtigt, den<lb/>
Gesetzen der Naturwissenschaften eine ganz allgemeine Bedeutung vindiciren<lb/>
zu können. Indeß zugegeben die Einheitlichkeit alles Wissens, ist es darum<lb/>
selbstverständlich, daß die in einer speciellen Disciplin beobachteten Thatsachen<lb/>
nothwendig auch in jeder andern vorauszusetzen sind? Ist es möglich, die<lb/>
Gesetze der todten Materie ohne Weiteres auf das psychisch-ethische Gebiet<lb/>
zu übertragen? Es ist klar, daß solch' metaphorisches Verfahren von höchst<lb/>
zweifelhaftem Werthe ist. Analogien haben in der strengen Wissenschaft<lb/>
immer ihre sehr mißliche Seite; statt einen Begriff aufzuhellen, verwischen<lb/>
sie ihn in der Regel.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_206"> Vielfach ist Careys Originalität gerühmt worden. Ob dieselbe dem tie¬<lb/>
feren Kerne seines Systems mit Recht zuzuschreiben, muß zum mindesten be¬<lb/>
zweifelt werden. Im Grunde macht das Werk den Eindruck einer Combi¬<lb/>
nation zweier längst überwundener Standpunkte, des Mercantilismus und<lb/>
des Physiokratismus. Wer z. B. Careys Ansichten über Ackerbau und über<lb/>
Geld betrachtet, der wird finden, daß jene ebenso sehr nach einer physiokrati-<lb/>
schen Ueberschätzung des Bodens, wie diese nach einer mercantilischen Ueber¬<lb/>
schätzung der edlen Metalle schmecken. An Careys Kritik der englischen Schule<lb/>
mag die maßlose Heftigkeit der Polemik getrost als Eigenthümlichkeit betrach¬<lb/>
tet werden. Soweit aber die Zurückweisung der britischen Ausschweifungen<lb/>
wirklich am Platze war, ist sie schon von anderer Seite besorgt worden. Unsere<lb/>
deutsche Wissenschaft bekennt sich nicht zu dem Dogma vom alleinseligmachen¬<lb/>
den Freihandelsprineiv. Auch über die Auffassung der Menschheit als eines<lb/>
leeren Abstractums sind wir längst hinaus: wir sind gewohnt, concretes<lb/>
Volksthum zu würdigen, für die Gleichberechtigung der einzelnen Volkswirth¬<lb/>
schaften haben wir vollkommenes Verständniß. &#x2014; Und endlich, wenn man<lb/>
es Carey als Verdienst anrechnet, daß er an die Stelle der Analyse die Syn¬<lb/>
these gesetzt habe, so halten wir auch hier entgegen, daß damit für Deutsch¬<lb/>
land wenigstens keine neue Bahn eröffnet wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_207" next="#ID_208"> Indeß es wäre ungerecht, wollte man bei Beurtheilung eines Schrift¬<lb/>
stellers die Umstände übersehen, unter deren Einflüsse er schrieb, den Boden,<lb/>
in welchem er wurzelt. Carey ist Amerikaner vom Scheitel bis zur Zehe.<lb/>
Pessimistische Betrachtung und geringes Verständniß für vergangene<lb/>
Jahrhunderte, Freiheit von historischen Prämissen, sanguinischer Optimismus<lb/>
gegenüber der Zukunft, Kühnheit des Wagens, Ungebundenhett, ja Zü-<lb/>
gellosigkeit, endlich Eisersucht und Haß gegen England &#x2014; all' diese Züge<lb/>
des amerikanischen Volkscharakters sind auch als Eigenschaften des Carey'-<lb/>
schen Standpunktes erkennbar. Es war ein großer Wurf, die Socialwissen¬<lb/>
schaft nicht allein als ein in sich vollendetes Ganze synthetisch ausbauen,<lb/>
sondern auch in organischer Einheitlichkeit mit allem übrigen Wissen begreifen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0080] beleuchten aller Wissenschaft; aus diesem Grunde glaubt er sich berechtigt, den Gesetzen der Naturwissenschaften eine ganz allgemeine Bedeutung vindiciren zu können. Indeß zugegeben die Einheitlichkeit alles Wissens, ist es darum selbstverständlich, daß die in einer speciellen Disciplin beobachteten Thatsachen nothwendig auch in jeder andern vorauszusetzen sind? Ist es möglich, die Gesetze der todten Materie ohne Weiteres auf das psychisch-ethische Gebiet zu übertragen? Es ist klar, daß solch' metaphorisches Verfahren von höchst zweifelhaftem Werthe ist. Analogien haben in der strengen Wissenschaft immer ihre sehr mißliche Seite; statt einen Begriff aufzuhellen, verwischen sie ihn in der Regel. Vielfach ist Careys Originalität gerühmt worden. Ob dieselbe dem tie¬ feren Kerne seines Systems mit Recht zuzuschreiben, muß zum mindesten be¬ zweifelt werden. Im Grunde macht das Werk den Eindruck einer Combi¬ nation zweier längst überwundener Standpunkte, des Mercantilismus und des Physiokratismus. Wer z. B. Careys Ansichten über Ackerbau und über Geld betrachtet, der wird finden, daß jene ebenso sehr nach einer physiokrati- schen Ueberschätzung des Bodens, wie diese nach einer mercantilischen Ueber¬ schätzung der edlen Metalle schmecken. An Careys Kritik der englischen Schule mag die maßlose Heftigkeit der Polemik getrost als Eigenthümlichkeit betrach¬ tet werden. Soweit aber die Zurückweisung der britischen Ausschweifungen wirklich am Platze war, ist sie schon von anderer Seite besorgt worden. Unsere deutsche Wissenschaft bekennt sich nicht zu dem Dogma vom alleinseligmachen¬ den Freihandelsprineiv. Auch über die Auffassung der Menschheit als eines leeren Abstractums sind wir längst hinaus: wir sind gewohnt, concretes Volksthum zu würdigen, für die Gleichberechtigung der einzelnen Volkswirth¬ schaften haben wir vollkommenes Verständniß. — Und endlich, wenn man es Carey als Verdienst anrechnet, daß er an die Stelle der Analyse die Syn¬ these gesetzt habe, so halten wir auch hier entgegen, daß damit für Deutsch¬ land wenigstens keine neue Bahn eröffnet wurde. Indeß es wäre ungerecht, wollte man bei Beurtheilung eines Schrift¬ stellers die Umstände übersehen, unter deren Einflüsse er schrieb, den Boden, in welchem er wurzelt. Carey ist Amerikaner vom Scheitel bis zur Zehe. Pessimistische Betrachtung und geringes Verständniß für vergangene Jahrhunderte, Freiheit von historischen Prämissen, sanguinischer Optimismus gegenüber der Zukunft, Kühnheit des Wagens, Ungebundenhett, ja Zü- gellosigkeit, endlich Eisersucht und Haß gegen England — all' diese Züge des amerikanischen Volkscharakters sind auch als Eigenschaften des Carey'- schen Standpunktes erkennbar. Es war ein großer Wurf, die Socialwissen¬ schaft nicht allein als ein in sich vollendetes Ganze synthetisch ausbauen, sondern auch in organischer Einheitlichkeit mit allem übrigen Wissen begreifen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/80
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/80>, abgerufen am 23.07.2024.