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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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derbe Detail der Auszüge und der Einzelreflexionen darüber nicht unwesent¬
lich reducirt, sowie auch ein letztes Verfolgen des Rousseau'schen Arbeitspro¬
cesses die Urtheile über seine verschiedenen Leistungen in einen Brennpunkt
vereinigt hätte. Wir finden nämlich das Charakteristische dieses Arbeitspro¬
cesses darin, daß Rousseau, durch seine ganze Entwicklung in eine Oppositions¬
stellung gegen die schlechte Wirklichkeit, besonders Frankreichs, gerückt,
Staat, Gesellschaft, Kunst, Wissenschaft, Theater, sociale Erziehung, unfähig,
das Wesen der Dinge begrifflich objectiv zu ergründen, im Princip bekämpft
hat. Er hat als ein blos räsonnirender Denker, der von dem empirischen
Thatbestand, und nicht von den Positionen des Gedankens ausgeht, die
Corruption im einzelnen Fall auf alle Fälle übertragen, den Abfall von
dem reinen Urzustand zum verwünschten Weltgesetz erhoben, jedweder Ent¬
wicklung sein moralisches Anathem entgegengeschleudert, die Depravation für
eine Nothwendigkeit, für die Substanz alles menschlichen Fortschreitens
erklärt.

Statt zu ergänzen, erlauben wir uns nur, einige Schiefheiten der Auf¬
fassung und Würdigung in dem vorliegenden Buch zu berichtigen. Es ist
unrichtig, was dasselbe II, 364 f. seinem Helden nachredet, daß der Hof¬
meister des "Emil" nur eine Fiction sein soll. Wenn man an die Wohnstube
Pestalozzi's sich erinnert, so ist es eine nothwendige Consequenz des Pla-
nes, den Zögling im Interesse reinster Selbstbestimmung völlig zu isoliren,
ihn keiner Wärme des Familienlebens theilhaft werden zu lassen. Dagegen
dürfte S. 373 f. der eudämonistische Zweck Rousseau's bei dem Ziele der Er¬
ziehung nicht mit Recht betont sein. Nicht , dem subjectiven Zweck des
"Selbstgenusses", sondern dem ewig objectiven Zwecke eines lebensfrischen
Daseins soll die hier angerathene Behandlung des Kindes in den ersten
Lebensjahren dienen. Bei der Besprechung des Briefs an d'Alembert über
die Schauspiele stimmt der Verfasser unter Angabe seiner Gründe im Ganzen
Rousseau zu. Sein Urtheil kommt S. 251 darauf hinaus: "Er habe auf
alle Fälle dargethan, daß es nicht so leicht ist, das Drama vom Standpunkt
der Ethik aus zu rechtfertigen und eben damit bewiesen, daß seine Be¬
rechtigung auf seinem eigenen Boden, dem der Aesthetik festzustellen sei".
Bei dieser gewaltsamen Auseinanderreißung des Guten und Schönen
haben Beide, diesmal auch der Beschützer und nicht blos der Schützling,
den Fehler begangen, den abu8us für den usus zu nehmen. Wenn Rousseau
und die Pariser, verführt durch den reichlichen Liebeszunder der fran-
zösischen Busen, bei scenischen Vorstellungen leicht Feuer fangen, darum
bleibt es doch wahr, daß es ein interesseloses, sittliches Wohlgefallen am
Schönen gibt. Wenn der Alcest Molle're's dem ordinären Zuschauer eine
lächerliche Figur wird, darum schlägt doch die Substanz des ausgezeichnet


derbe Detail der Auszüge und der Einzelreflexionen darüber nicht unwesent¬
lich reducirt, sowie auch ein letztes Verfolgen des Rousseau'schen Arbeitspro¬
cesses die Urtheile über seine verschiedenen Leistungen in einen Brennpunkt
vereinigt hätte. Wir finden nämlich das Charakteristische dieses Arbeitspro¬
cesses darin, daß Rousseau, durch seine ganze Entwicklung in eine Oppositions¬
stellung gegen die schlechte Wirklichkeit, besonders Frankreichs, gerückt,
Staat, Gesellschaft, Kunst, Wissenschaft, Theater, sociale Erziehung, unfähig,
das Wesen der Dinge begrifflich objectiv zu ergründen, im Princip bekämpft
hat. Er hat als ein blos räsonnirender Denker, der von dem empirischen
Thatbestand, und nicht von den Positionen des Gedankens ausgeht, die
Corruption im einzelnen Fall auf alle Fälle übertragen, den Abfall von
dem reinen Urzustand zum verwünschten Weltgesetz erhoben, jedweder Ent¬
wicklung sein moralisches Anathem entgegengeschleudert, die Depravation für
eine Nothwendigkeit, für die Substanz alles menschlichen Fortschreitens
erklärt.

Statt zu ergänzen, erlauben wir uns nur, einige Schiefheiten der Auf¬
fassung und Würdigung in dem vorliegenden Buch zu berichtigen. Es ist
unrichtig, was dasselbe II, 364 f. seinem Helden nachredet, daß der Hof¬
meister des „Emil" nur eine Fiction sein soll. Wenn man an die Wohnstube
Pestalozzi's sich erinnert, so ist es eine nothwendige Consequenz des Pla-
nes, den Zögling im Interesse reinster Selbstbestimmung völlig zu isoliren,
ihn keiner Wärme des Familienlebens theilhaft werden zu lassen. Dagegen
dürfte S. 373 f. der eudämonistische Zweck Rousseau's bei dem Ziele der Er¬
ziehung nicht mit Recht betont sein. Nicht , dem subjectiven Zweck des
„Selbstgenusses", sondern dem ewig objectiven Zwecke eines lebensfrischen
Daseins soll die hier angerathene Behandlung des Kindes in den ersten
Lebensjahren dienen. Bei der Besprechung des Briefs an d'Alembert über
die Schauspiele stimmt der Verfasser unter Angabe seiner Gründe im Ganzen
Rousseau zu. Sein Urtheil kommt S. 251 darauf hinaus: „Er habe auf
alle Fälle dargethan, daß es nicht so leicht ist, das Drama vom Standpunkt
der Ethik aus zu rechtfertigen und eben damit bewiesen, daß seine Be¬
rechtigung auf seinem eigenen Boden, dem der Aesthetik festzustellen sei".
Bei dieser gewaltsamen Auseinanderreißung des Guten und Schönen
haben Beide, diesmal auch der Beschützer und nicht blos der Schützling,
den Fehler begangen, den abu8us für den usus zu nehmen. Wenn Rousseau
und die Pariser, verführt durch den reichlichen Liebeszunder der fran-
zösischen Busen, bei scenischen Vorstellungen leicht Feuer fangen, darum
bleibt es doch wahr, daß es ein interesseloses, sittliches Wohlgefallen am
Schönen gibt. Wenn der Alcest Molle're's dem ordinären Zuschauer eine
lächerliche Figur wird, darum schlägt doch die Substanz des ausgezeichnet


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/551>, abgerufen am 29.06.2024.