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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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um die siegreiche Gewalt, und die Massen gingen wieder ruhig der Werk¬
tagsarbeit und dem bürgerlichen Erwerbe nach, völlig bereit, sich jede poli¬
tische Organisation gefallen zu lassen, die ihnen das preußische Scepter brin¬
gen sollte. Mit dem' dynastischen Particularismus schwand aber auch der
Ansatz zu einem kräftigen und gesunden Provinzialgeist.

Die ersten Wahlen zum Reichstag und Landtag zeigten etwa folgende
Physiognomie. Die nationale Partei war, Dank der "Schneidigkeit" des
Barons v. Scheel-Plessen, längst viel zu deroutirt, um der Bevölkerung noch
irgend einen Impuls zu geben. Neben dem noch .etwas verschämten Gou¬
vernementalismus, der für den Herrn Oberpräsidenten oder den Herrn Land¬
rath Propaganda machte, existirte nur die verdrossene Thätigkeit der bis¬
herigen Volksführer, einer ziemlich bunten Gesellschaft ehemaliger Augusten-
burger und Demokraten, die sich theils nach dem Programm von Neumünster,
theils als deutsche Volkspartei charakterisirten und den Wahlkreisen ihre
Kandidaturen aufoctroyirten. Von einer eigentlichen Wahlbewegung war nir¬
gends die Rede. Gleichmüthig ging man an die Wahlurne, wenn man gerade
nichts Besseres vorhatte, und gab seine Stimme den leidlich bekannten
Namen, die man an den Straßenecken oder in der Zeitung gelesen hatte.
Das Ergebniß ist bekannt. Wir schickten eine bedeutende Zahl recht unbe¬
deutender Leute nach Berlin, gerade gut genug, um Franke, Schleiden und
Scheel-Plessen als Folie zu dienen und die äußerste Opposition gegen die
Politik d. I. 1866 bei den Abstimmungen ein wenig zu verstärken. Obwohl,
man durch die Vertrauensmänner, die im Herbst 1867 nach Berlin berufen
worden waren, genügend informire sein konnte über den Reichthum an Or¬
ganisationsideen des Grafen Eulenburg, fehlten überall Fähigkeit und Kraft,
um mannhaft einzutreten für die wahrhaften Bedürfnisse der Provinz gegen
den centralisirenden Schlendrian der berliner Bureaukratie.

Unsere heutige Presse ist über alles Maß hinaus unselbständig
charakterlos, von verwaschener Farbe. Sie vermochte auch nach Beseitigung
der Polizeiwillkür und Einführung des preußischen Preß- und Verfasfungs-
gesetzes keine Haltung zu gewinnen. Die "Jtzehoer Nachrichten" unter Re¬
daction von Dr. Endrulat haben sich vollständig aller eigenen politischen An¬
sichten zu Gunsten breitester Erörterung localer Kirchthurmsinteressen be¬
geben und sind schließlich in jüngster Zeit durch Aufnahme einer Local-
notiz aus der "Kieler Zeitung" dennoch nicht dem Schicksal entgangen, in
einen Preßproeeß und eine mehrwöchentliche Gefängnißstrafe verwickelt zu
werden. Die "Flensburger norddeutsche Zeitung" scheint von ihren früheren
nationalen Freunden ganz verlassen zu sein und ist fast so gouvernemenral
wie ihre berliner Namenscousine. Die "Kieler Zeitung", durch ihren Eigen¬
thümer Dr. Ahlmann noch in gewisser Beziehung zu den augustenburger


um die siegreiche Gewalt, und die Massen gingen wieder ruhig der Werk¬
tagsarbeit und dem bürgerlichen Erwerbe nach, völlig bereit, sich jede poli¬
tische Organisation gefallen zu lassen, die ihnen das preußische Scepter brin¬
gen sollte. Mit dem' dynastischen Particularismus schwand aber auch der
Ansatz zu einem kräftigen und gesunden Provinzialgeist.

Die ersten Wahlen zum Reichstag und Landtag zeigten etwa folgende
Physiognomie. Die nationale Partei war, Dank der „Schneidigkeit" des
Barons v. Scheel-Plessen, längst viel zu deroutirt, um der Bevölkerung noch
irgend einen Impuls zu geben. Neben dem noch .etwas verschämten Gou¬
vernementalismus, der für den Herrn Oberpräsidenten oder den Herrn Land¬
rath Propaganda machte, existirte nur die verdrossene Thätigkeit der bis¬
herigen Volksführer, einer ziemlich bunten Gesellschaft ehemaliger Augusten-
burger und Demokraten, die sich theils nach dem Programm von Neumünster,
theils als deutsche Volkspartei charakterisirten und den Wahlkreisen ihre
Kandidaturen aufoctroyirten. Von einer eigentlichen Wahlbewegung war nir¬
gends die Rede. Gleichmüthig ging man an die Wahlurne, wenn man gerade
nichts Besseres vorhatte, und gab seine Stimme den leidlich bekannten
Namen, die man an den Straßenecken oder in der Zeitung gelesen hatte.
Das Ergebniß ist bekannt. Wir schickten eine bedeutende Zahl recht unbe¬
deutender Leute nach Berlin, gerade gut genug, um Franke, Schleiden und
Scheel-Plessen als Folie zu dienen und die äußerste Opposition gegen die
Politik d. I. 1866 bei den Abstimmungen ein wenig zu verstärken. Obwohl,
man durch die Vertrauensmänner, die im Herbst 1867 nach Berlin berufen
worden waren, genügend informire sein konnte über den Reichthum an Or¬
ganisationsideen des Grafen Eulenburg, fehlten überall Fähigkeit und Kraft,
um mannhaft einzutreten für die wahrhaften Bedürfnisse der Provinz gegen
den centralisirenden Schlendrian der berliner Bureaukratie.

Unsere heutige Presse ist über alles Maß hinaus unselbständig
charakterlos, von verwaschener Farbe. Sie vermochte auch nach Beseitigung
der Polizeiwillkür und Einführung des preußischen Preß- und Verfasfungs-
gesetzes keine Haltung zu gewinnen. Die „Jtzehoer Nachrichten" unter Re¬
daction von Dr. Endrulat haben sich vollständig aller eigenen politischen An¬
sichten zu Gunsten breitester Erörterung localer Kirchthurmsinteressen be¬
geben und sind schließlich in jüngster Zeit durch Aufnahme einer Local-
notiz aus der „Kieler Zeitung" dennoch nicht dem Schicksal entgangen, in
einen Preßproeeß und eine mehrwöchentliche Gefängnißstrafe verwickelt zu
werden. Die „Flensburger norddeutsche Zeitung" scheint von ihren früheren
nationalen Freunden ganz verlassen zu sein und ist fast so gouvernemenral
wie ihre berliner Namenscousine. Die „Kieler Zeitung", durch ihren Eigen¬
thümer Dr. Ahlmann noch in gewisser Beziehung zu den augustenburger


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[0530] um die siegreiche Gewalt, und die Massen gingen wieder ruhig der Werk¬ tagsarbeit und dem bürgerlichen Erwerbe nach, völlig bereit, sich jede poli¬ tische Organisation gefallen zu lassen, die ihnen das preußische Scepter brin¬ gen sollte. Mit dem' dynastischen Particularismus schwand aber auch der Ansatz zu einem kräftigen und gesunden Provinzialgeist. Die ersten Wahlen zum Reichstag und Landtag zeigten etwa folgende Physiognomie. Die nationale Partei war, Dank der „Schneidigkeit" des Barons v. Scheel-Plessen, längst viel zu deroutirt, um der Bevölkerung noch irgend einen Impuls zu geben. Neben dem noch .etwas verschämten Gou¬ vernementalismus, der für den Herrn Oberpräsidenten oder den Herrn Land¬ rath Propaganda machte, existirte nur die verdrossene Thätigkeit der bis¬ herigen Volksführer, einer ziemlich bunten Gesellschaft ehemaliger Augusten- burger und Demokraten, die sich theils nach dem Programm von Neumünster, theils als deutsche Volkspartei charakterisirten und den Wahlkreisen ihre Kandidaturen aufoctroyirten. Von einer eigentlichen Wahlbewegung war nir¬ gends die Rede. Gleichmüthig ging man an die Wahlurne, wenn man gerade nichts Besseres vorhatte, und gab seine Stimme den leidlich bekannten Namen, die man an den Straßenecken oder in der Zeitung gelesen hatte. Das Ergebniß ist bekannt. Wir schickten eine bedeutende Zahl recht unbe¬ deutender Leute nach Berlin, gerade gut genug, um Franke, Schleiden und Scheel-Plessen als Folie zu dienen und die äußerste Opposition gegen die Politik d. I. 1866 bei den Abstimmungen ein wenig zu verstärken. Obwohl, man durch die Vertrauensmänner, die im Herbst 1867 nach Berlin berufen worden waren, genügend informire sein konnte über den Reichthum an Or¬ ganisationsideen des Grafen Eulenburg, fehlten überall Fähigkeit und Kraft, um mannhaft einzutreten für die wahrhaften Bedürfnisse der Provinz gegen den centralisirenden Schlendrian der berliner Bureaukratie. Unsere heutige Presse ist über alles Maß hinaus unselbständig charakterlos, von verwaschener Farbe. Sie vermochte auch nach Beseitigung der Polizeiwillkür und Einführung des preußischen Preß- und Verfasfungs- gesetzes keine Haltung zu gewinnen. Die „Jtzehoer Nachrichten" unter Re¬ daction von Dr. Endrulat haben sich vollständig aller eigenen politischen An¬ sichten zu Gunsten breitester Erörterung localer Kirchthurmsinteressen be¬ geben und sind schließlich in jüngster Zeit durch Aufnahme einer Local- notiz aus der „Kieler Zeitung" dennoch nicht dem Schicksal entgangen, in einen Preßproeeß und eine mehrwöchentliche Gefängnißstrafe verwickelt zu werden. Die „Flensburger norddeutsche Zeitung" scheint von ihren früheren nationalen Freunden ganz verlassen zu sein und ist fast so gouvernemenral wie ihre berliner Namenscousine. Die „Kieler Zeitung", durch ihren Eigen¬ thümer Dr. Ahlmann noch in gewisser Beziehung zu den augustenburger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/530>, abgerufen am 02.10.2024.