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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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Socialcontractes find ihrerseits von specifisch französischem Gepräge. In der
Revolution haben die Rousseauianer, nachdem sie das ewige Wesen wieder
eingesetzt, mit ihrem abstracten Volkssouveränetätsbegriff ihre Gegner durch
die Guillotine widerlegt. Die Voltairianer, welche aus die Länge doch das
französische Wesen besser befriedigen, bildeten die Reaction des Lebensgenusses
gegen die republikanischen Sittlichkeitspostulate, aber sie arbeiteten, größten-
theils unbewußt, dem Cäsarismus vor, unter welchem die Sittlichkeit für
hohle Ideologie galt und ein denkender Mensch fast noch seltener war, als
ein unabhängiger. --

Paul-Louis' wechselvolles und schicksalreiches Leben begann sechszehn
Jahre vor dem Bastillesturm in einer reichen pariser Bürgerfamilie. Ein
galantes Abenteuer zwang seinen Vater, als Paul-Louis noch ein Kind war,
die Hauptstadt zu verlassen. Er siedelte sich in der Touraine an, der male¬
rischen Provinz mit der alterthümlich naiven Redeweise, der Frankreich so
manche poetische Anregung verdankt. Sie sollte auch später, als im übrigen
Frankreich das Volksleben beinahe erstarrt war, den Hintergrund zu Courier's
Populären Darstellungen bilden. Der junge Courier wurde für die Laufbahn des
Genie- und Artillerieoffiziers bestimmt und absolvirte seine Studien in dieser
Richtung auf das Befriedigendste. Aber neben den exacten Wissenschaften
trieb er griechische Literatur mit Leidenschaft, sodaß er, nach einer brieflichen
Aeußerung, gern alle Wahrheiten des Euklid für eine einzige Seite des Jso-
krates gegeben hätte. Keine Liebe bleibt unbelohnt: dem Griechischen ver¬
dankte er seinen classischen französischen Stil und wohl theilweise auch seinen frei¬
heitlichen Sinn. Vorläufig aber absorbirten ihn seine Studien dergestalt, daß
die revolutionären Ereignisse ohne tiefen Eindruck an ihm vorüberzogen. Der
zwanzigjährige Jüngling wird von der Kriegsschule als Artillerieoffizier gegen
die Preußen (1793) an die Grenze geschickt. Wirklichen Enthusiasmus für
das Kriegshandwerk hat er -- merkwürdig bei einem Franzosen! -- schon
damals nicht besessen. Er ist tapfer genug, um sich von Tapferkeit nicht
imponiren zu lassen. Mehr kriegerisch als soldatisch, mehr rauflustig und
abenteuerliebend als militärisch disciplinirbar hätte er seinem Tempera¬
ment zufolge eher zu einem mittelalterlichen Bandenführer, als zu einem
Werkzeug der napoleonischen Massen-Kriegführung getaugt. Ein Mann, der
steh auf Tapferkeit überhaupt und auf die französische Tapferkeit insbesondere
Wohl verstand, Armand Carrel nämlich, macht über ihn die Bemerkung, daß
sein Muth mehr in der kaltblütigen und nachlässigen Verachtung der Gefahr
in der heißen Tollheit der Redoutenstürmer bestanden habe, und fügt
hinzu, er sei ebensowenig dazu geeignet gewesen als Soldat den Marschalls¬
stab zu erlangen, wie als Schriftsteller den Sitz in der Akademie. Den
seltneren bürgerlichen Muth dagegen bewies er später in glänzendster Weise,


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Socialcontractes find ihrerseits von specifisch französischem Gepräge. In der
Revolution haben die Rousseauianer, nachdem sie das ewige Wesen wieder
eingesetzt, mit ihrem abstracten Volkssouveränetätsbegriff ihre Gegner durch
die Guillotine widerlegt. Die Voltairianer, welche aus die Länge doch das
französische Wesen besser befriedigen, bildeten die Reaction des Lebensgenusses
gegen die republikanischen Sittlichkeitspostulate, aber sie arbeiteten, größten-
theils unbewußt, dem Cäsarismus vor, unter welchem die Sittlichkeit für
hohle Ideologie galt und ein denkender Mensch fast noch seltener war, als
ein unabhängiger. —

Paul-Louis' wechselvolles und schicksalreiches Leben begann sechszehn
Jahre vor dem Bastillesturm in einer reichen pariser Bürgerfamilie. Ein
galantes Abenteuer zwang seinen Vater, als Paul-Louis noch ein Kind war,
die Hauptstadt zu verlassen. Er siedelte sich in der Touraine an, der male¬
rischen Provinz mit der alterthümlich naiven Redeweise, der Frankreich so
manche poetische Anregung verdankt. Sie sollte auch später, als im übrigen
Frankreich das Volksleben beinahe erstarrt war, den Hintergrund zu Courier's
Populären Darstellungen bilden. Der junge Courier wurde für die Laufbahn des
Genie- und Artillerieoffiziers bestimmt und absolvirte seine Studien in dieser
Richtung auf das Befriedigendste. Aber neben den exacten Wissenschaften
trieb er griechische Literatur mit Leidenschaft, sodaß er, nach einer brieflichen
Aeußerung, gern alle Wahrheiten des Euklid für eine einzige Seite des Jso-
krates gegeben hätte. Keine Liebe bleibt unbelohnt: dem Griechischen ver¬
dankte er seinen classischen französischen Stil und wohl theilweise auch seinen frei¬
heitlichen Sinn. Vorläufig aber absorbirten ihn seine Studien dergestalt, daß
die revolutionären Ereignisse ohne tiefen Eindruck an ihm vorüberzogen. Der
zwanzigjährige Jüngling wird von der Kriegsschule als Artillerieoffizier gegen
die Preußen (1793) an die Grenze geschickt. Wirklichen Enthusiasmus für
das Kriegshandwerk hat er — merkwürdig bei einem Franzosen! — schon
damals nicht besessen. Er ist tapfer genug, um sich von Tapferkeit nicht
imponiren zu lassen. Mehr kriegerisch als soldatisch, mehr rauflustig und
abenteuerliebend als militärisch disciplinirbar hätte er seinem Tempera¬
ment zufolge eher zu einem mittelalterlichen Bandenführer, als zu einem
Werkzeug der napoleonischen Massen-Kriegführung getaugt. Ein Mann, der
steh auf Tapferkeit überhaupt und auf die französische Tapferkeit insbesondere
Wohl verstand, Armand Carrel nämlich, macht über ihn die Bemerkung, daß
sein Muth mehr in der kaltblütigen und nachlässigen Verachtung der Gefahr
in der heißen Tollheit der Redoutenstürmer bestanden habe, und fügt
hinzu, er sei ebensowenig dazu geeignet gewesen als Soldat den Marschalls¬
stab zu erlangen, wie als Schriftsteller den Sitz in der Akademie. Den
seltneren bürgerlichen Muth dagegen bewies er später in glänzendster Weise,


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[0433] Socialcontractes find ihrerseits von specifisch französischem Gepräge. In der Revolution haben die Rousseauianer, nachdem sie das ewige Wesen wieder eingesetzt, mit ihrem abstracten Volkssouveränetätsbegriff ihre Gegner durch die Guillotine widerlegt. Die Voltairianer, welche aus die Länge doch das französische Wesen besser befriedigen, bildeten die Reaction des Lebensgenusses gegen die republikanischen Sittlichkeitspostulate, aber sie arbeiteten, größten- theils unbewußt, dem Cäsarismus vor, unter welchem die Sittlichkeit für hohle Ideologie galt und ein denkender Mensch fast noch seltener war, als ein unabhängiger. — Paul-Louis' wechselvolles und schicksalreiches Leben begann sechszehn Jahre vor dem Bastillesturm in einer reichen pariser Bürgerfamilie. Ein galantes Abenteuer zwang seinen Vater, als Paul-Louis noch ein Kind war, die Hauptstadt zu verlassen. Er siedelte sich in der Touraine an, der male¬ rischen Provinz mit der alterthümlich naiven Redeweise, der Frankreich so manche poetische Anregung verdankt. Sie sollte auch später, als im übrigen Frankreich das Volksleben beinahe erstarrt war, den Hintergrund zu Courier's Populären Darstellungen bilden. Der junge Courier wurde für die Laufbahn des Genie- und Artillerieoffiziers bestimmt und absolvirte seine Studien in dieser Richtung auf das Befriedigendste. Aber neben den exacten Wissenschaften trieb er griechische Literatur mit Leidenschaft, sodaß er, nach einer brieflichen Aeußerung, gern alle Wahrheiten des Euklid für eine einzige Seite des Jso- krates gegeben hätte. Keine Liebe bleibt unbelohnt: dem Griechischen ver¬ dankte er seinen classischen französischen Stil und wohl theilweise auch seinen frei¬ heitlichen Sinn. Vorläufig aber absorbirten ihn seine Studien dergestalt, daß die revolutionären Ereignisse ohne tiefen Eindruck an ihm vorüberzogen. Der zwanzigjährige Jüngling wird von der Kriegsschule als Artillerieoffizier gegen die Preußen (1793) an die Grenze geschickt. Wirklichen Enthusiasmus für das Kriegshandwerk hat er — merkwürdig bei einem Franzosen! — schon damals nicht besessen. Er ist tapfer genug, um sich von Tapferkeit nicht imponiren zu lassen. Mehr kriegerisch als soldatisch, mehr rauflustig und abenteuerliebend als militärisch disciplinirbar hätte er seinem Tempera¬ ment zufolge eher zu einem mittelalterlichen Bandenführer, als zu einem Werkzeug der napoleonischen Massen-Kriegführung getaugt. Ein Mann, der steh auf Tapferkeit überhaupt und auf die französische Tapferkeit insbesondere Wohl verstand, Armand Carrel nämlich, macht über ihn die Bemerkung, daß sein Muth mehr in der kaltblütigen und nachlässigen Verachtung der Gefahr in der heißen Tollheit der Redoutenstürmer bestanden habe, und fügt hinzu, er sei ebensowenig dazu geeignet gewesen als Soldat den Marschalls¬ stab zu erlangen, wie als Schriftsteller den Sitz in der Akademie. Den seltneren bürgerlichen Muth dagegen bewies er später in glänzendster Weise, 51*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/433>, abgerufen am 04.07.2024.