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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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zugehen; hier muß es genug sein, an ein paar Beispiele zu erinnern. Eine
oft wiederholte Gruppe zeigt uns einen kräftigen Buben im Kampf mit einer
Gans; mit komischem Ernste sammelt das Bürschchen alle seine Kräfte, um
das große Thier mit den Armen zu erdrosseln. Es ist ein ganz anspruchs¬
loses Bild, von der Straße hergenommen; der Knabe unterscheidet sich in
nichts von dem kleinen Herakles, der am Boden kniet und sich bemüht, die
beiden Schlangen zu würgen, welche seinen Schlaf gestört haben -- nebenbei
bemerkt, eine auch vom Idyll behandelte Scene. Und wiederum ist von dem
Gassenbuben und dem heroischen Knaben nicht verschieden der kleine Hermes,
der sich mit köstlichem Humor in sein großes Leintuch gewickelt hat wie ein
Erwachsener in seinen Mantel und mit größter Biederkeit seinen Vater Zeus
hinsichtlich des ihm zur Last gelegten Rinderdiebstahls anlügt. Es sind eben
Alles Kinder, wo sich die Grenzen von selber verwischen. Aehnlich ist es
bei der lieblichen Gruppe von Eros und Psyche; bald sind sie geflügelt und
man zweifelt nicht an der Göttlichkeit der Kinder, bald ungeflügelt und nichts
ist im Wege, sie für Sterbliche zu halten. Wohin wir aber auch blicken,
auf den Dornauszieher, auf die Knöchelspielerin u. s. w., überall die gleiche
köstliche Naivetät. Das Genre ist das reinste und feinste Kunsterzeugniß
jener Zeit.

Dieser einfachen Naivetät fehlt es aber endlich auch nicht an einem
schlimmen Gegenbilde in den zahlreichen Schlüpfrigkeiten. Die griechische
Kunst hat es zu keiner Zeit zurückgewiesen, viel Natürliches, was unser
moderner Sinn als unanständig zu empfinden sich gewöhnt hat, in voller
Unbefangenheit darzustellen, sobald sich demselben eine künstlerische Seite ab¬
gewinnen ließ; ja auch vor Derbheiten hat sie sich nicht gescheut. Aber von
einzelnen Ausnahmen abgesehen war es lange Zeit nur eine gesunde Sinn¬
lichkeit, die sich aussprach. Im vierten Jahrhunderte beginnen die ersten
Anzeichen eines Verfalls, in enger Verbindung mit den analogen Erschei¬
nungen des socialen Lebens. In der monarchischen Zeit macht sich die all¬
gemeine Neigung zum Raffinement auch aus diesem Felde in der widerwär¬
tigsten Weise breit. Die griechische Mythologie bot denen, die danach be-
gehrten, passende Stoffe genug; sie wurden reichlich und ohne alle Scheu
benutzt (zur großen Freude für die eifernden Kirchenväter späterer Jahrhun¬
derte), und man muß sagen, mit einem Talent und einer Gewalt der Sinn¬
lichkeit, daß man auch hier erkennt, wie fest dieser Kunstzweig in der
gesammten Sinnesrichtung der Zeit wurzelte. Es wird genügen, auf die Dar¬
stellungen Ganymeds und Ledas, vor Allem aber auf das ebenso widerwär¬
tige wie beliebte Thema des Hermaphroditen hinzuweisen.

Etwa zwei Jahrhunderte hat die geschilderte Umformung der Kunst in
Anspruch genommen. Unrecht wäre, für die hervorgehobenen Zeichen des


zugehen; hier muß es genug sein, an ein paar Beispiele zu erinnern. Eine
oft wiederholte Gruppe zeigt uns einen kräftigen Buben im Kampf mit einer
Gans; mit komischem Ernste sammelt das Bürschchen alle seine Kräfte, um
das große Thier mit den Armen zu erdrosseln. Es ist ein ganz anspruchs¬
loses Bild, von der Straße hergenommen; der Knabe unterscheidet sich in
nichts von dem kleinen Herakles, der am Boden kniet und sich bemüht, die
beiden Schlangen zu würgen, welche seinen Schlaf gestört haben — nebenbei
bemerkt, eine auch vom Idyll behandelte Scene. Und wiederum ist von dem
Gassenbuben und dem heroischen Knaben nicht verschieden der kleine Hermes,
der sich mit köstlichem Humor in sein großes Leintuch gewickelt hat wie ein
Erwachsener in seinen Mantel und mit größter Biederkeit seinen Vater Zeus
hinsichtlich des ihm zur Last gelegten Rinderdiebstahls anlügt. Es sind eben
Alles Kinder, wo sich die Grenzen von selber verwischen. Aehnlich ist es
bei der lieblichen Gruppe von Eros und Psyche; bald sind sie geflügelt und
man zweifelt nicht an der Göttlichkeit der Kinder, bald ungeflügelt und nichts
ist im Wege, sie für Sterbliche zu halten. Wohin wir aber auch blicken,
auf den Dornauszieher, auf die Knöchelspielerin u. s. w., überall die gleiche
köstliche Naivetät. Das Genre ist das reinste und feinste Kunsterzeugniß
jener Zeit.

Dieser einfachen Naivetät fehlt es aber endlich auch nicht an einem
schlimmen Gegenbilde in den zahlreichen Schlüpfrigkeiten. Die griechische
Kunst hat es zu keiner Zeit zurückgewiesen, viel Natürliches, was unser
moderner Sinn als unanständig zu empfinden sich gewöhnt hat, in voller
Unbefangenheit darzustellen, sobald sich demselben eine künstlerische Seite ab¬
gewinnen ließ; ja auch vor Derbheiten hat sie sich nicht gescheut. Aber von
einzelnen Ausnahmen abgesehen war es lange Zeit nur eine gesunde Sinn¬
lichkeit, die sich aussprach. Im vierten Jahrhunderte beginnen die ersten
Anzeichen eines Verfalls, in enger Verbindung mit den analogen Erschei¬
nungen des socialen Lebens. In der monarchischen Zeit macht sich die all¬
gemeine Neigung zum Raffinement auch aus diesem Felde in der widerwär¬
tigsten Weise breit. Die griechische Mythologie bot denen, die danach be-
gehrten, passende Stoffe genug; sie wurden reichlich und ohne alle Scheu
benutzt (zur großen Freude für die eifernden Kirchenväter späterer Jahrhun¬
derte), und man muß sagen, mit einem Talent und einer Gewalt der Sinn¬
lichkeit, daß man auch hier erkennt, wie fest dieser Kunstzweig in der
gesammten Sinnesrichtung der Zeit wurzelte. Es wird genügen, auf die Dar¬
stellungen Ganymeds und Ledas, vor Allem aber auf das ebenso widerwär¬
tige wie beliebte Thema des Hermaphroditen hinzuweisen.

Etwa zwei Jahrhunderte hat die geschilderte Umformung der Kunst in
Anspruch genommen. Unrecht wäre, für die hervorgehobenen Zeichen des


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[0417] zugehen; hier muß es genug sein, an ein paar Beispiele zu erinnern. Eine oft wiederholte Gruppe zeigt uns einen kräftigen Buben im Kampf mit einer Gans; mit komischem Ernste sammelt das Bürschchen alle seine Kräfte, um das große Thier mit den Armen zu erdrosseln. Es ist ein ganz anspruchs¬ loses Bild, von der Straße hergenommen; der Knabe unterscheidet sich in nichts von dem kleinen Herakles, der am Boden kniet und sich bemüht, die beiden Schlangen zu würgen, welche seinen Schlaf gestört haben — nebenbei bemerkt, eine auch vom Idyll behandelte Scene. Und wiederum ist von dem Gassenbuben und dem heroischen Knaben nicht verschieden der kleine Hermes, der sich mit köstlichem Humor in sein großes Leintuch gewickelt hat wie ein Erwachsener in seinen Mantel und mit größter Biederkeit seinen Vater Zeus hinsichtlich des ihm zur Last gelegten Rinderdiebstahls anlügt. Es sind eben Alles Kinder, wo sich die Grenzen von selber verwischen. Aehnlich ist es bei der lieblichen Gruppe von Eros und Psyche; bald sind sie geflügelt und man zweifelt nicht an der Göttlichkeit der Kinder, bald ungeflügelt und nichts ist im Wege, sie für Sterbliche zu halten. Wohin wir aber auch blicken, auf den Dornauszieher, auf die Knöchelspielerin u. s. w., überall die gleiche köstliche Naivetät. Das Genre ist das reinste und feinste Kunsterzeugniß jener Zeit. Dieser einfachen Naivetät fehlt es aber endlich auch nicht an einem schlimmen Gegenbilde in den zahlreichen Schlüpfrigkeiten. Die griechische Kunst hat es zu keiner Zeit zurückgewiesen, viel Natürliches, was unser moderner Sinn als unanständig zu empfinden sich gewöhnt hat, in voller Unbefangenheit darzustellen, sobald sich demselben eine künstlerische Seite ab¬ gewinnen ließ; ja auch vor Derbheiten hat sie sich nicht gescheut. Aber von einzelnen Ausnahmen abgesehen war es lange Zeit nur eine gesunde Sinn¬ lichkeit, die sich aussprach. Im vierten Jahrhunderte beginnen die ersten Anzeichen eines Verfalls, in enger Verbindung mit den analogen Erschei¬ nungen des socialen Lebens. In der monarchischen Zeit macht sich die all¬ gemeine Neigung zum Raffinement auch aus diesem Felde in der widerwär¬ tigsten Weise breit. Die griechische Mythologie bot denen, die danach be- gehrten, passende Stoffe genug; sie wurden reichlich und ohne alle Scheu benutzt (zur großen Freude für die eifernden Kirchenväter späterer Jahrhun¬ derte), und man muß sagen, mit einem Talent und einer Gewalt der Sinn¬ lichkeit, daß man auch hier erkennt, wie fest dieser Kunstzweig in der gesammten Sinnesrichtung der Zeit wurzelte. Es wird genügen, auf die Dar¬ stellungen Ganymeds und Ledas, vor Allem aber auf das ebenso widerwär¬ tige wie beliebte Thema des Hermaphroditen hinzuweisen. Etwa zwei Jahrhunderte hat die geschilderte Umformung der Kunst in Anspruch genommen. Unrecht wäre, für die hervorgehobenen Zeichen des

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/417>, abgerufen am 04.07.2024.