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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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während zu ihren Füßen der jugendliche Orontes in der Haltung eines
Schwimmers mit halbem Leibe aus dem Boden hervorragt. Es ist ein an¬
schauliches, wohlgelungenes Bild der Oertlichkeit nach Lage und Bedeutung.
Weit ansprechender jedoch ist eine ähnliche Aufgabe in einer der lieblichsten
Antiken gelöst, in der vaticanischen Statue des Nil. Es galt, diesen Fluß
als den Urquell der wunderbaren Fruchtbarkeit Aegyptens darzustellen. Kein
Regen netzt je das Land, sondern nur das regelmäßige Steigen des Nils
bringt den reißen Segen hervor. Wie griff nun der Künstler seine Aufgabe
an? Zunächst war die allgemeine Bildung der Flußgötter längst festgestellt,
sie liegen am Boden hingestreckt -- natürlich, denn wie sollte ein Fluß sich
vom Boden erheben können? Der "Vater Nil", wie der Name lautete, ent¬
sprechend unsrem "Vater Rhein", ward also als ein behaglich hingestreckter
Mann in vorgerückten Jahren dargestellt, Haar und Bart fließen gleichsam
naß herab; die ägyptische Localität wird durch die Sphinx, aus die der Gott
sich stützt, und durch Krokodil und Ichneumon zu seinen Füßen bezeichnet, der
Reichthum durch das Füllhorn. Aber noch nicht genug. Der Vater Nil ist
von einer ganzen Kinderschaar umgeben und gleichsam umrahmt; sie spielen
mit dem Ichneumon, sie reiten auf dem Krokodil, sie schwingen sich auf die
Beine des Alten, klettern zu seinen Armen hinauf, immer höher und höher,
bis einer endlich auf seiner Schulter Platz genommen hat und triumphirend
auf die Binde weist, welche das reiche Haar des Gottes umgibt, ein zweiter
aber mit dem vollendeten Ausdruck des Wohlbehagens mitten aus den Früch¬
ten oben im Füllhorn hervorschaut. Es ist ein Bild unendlichen Reichthums,
unendlichen Lebens, welches in dieser Kinderfülle sprudelt, ohne daß der Ein¬
druck behaglicher Ruhe in der Figur des Alten irgendwie beeinträchtigt oder
die schönen Linien seines Körpers undeutlich würden. Und zählen wir nun
die Kleinen, da sind es sechzehn -- die sechzehn Ellen, welche der Nil noto¬
risch steigen muß, um den größten Segen über das Land auszuschütten!
Gottlob auch hier wieder, daß wir das nicht zu wissen brauchen, um uns an
dem reizenden Bilde zu freuen. Daß dies möglich ist, darin bewährt sich
eben der Meister als wahren Künstler, weit erhaben über die frostige Alle¬
gorie seines Concetto.

Es ist der Geist des Idylls, welcher diese geniale Conception durch¬
weht, das heißt derjenigen Dichtungsart, welche unter den poetischen Leistun¬
gen der Alexandriner obenan steht. Dem Idyll verwandt ist in der bilden¬
den Kunst das Genre, das vor Allem so gern in die Kinderwelt flüchtet.
Die alte Kunst offenbart eine außerordentliche Meisterschaft in der Dar¬
stellung von Kinderfiguren und ihren naiven Beschäftigungen, wie sie von
neueren Meistern fast nur bei Raphael, Correggio und Sodoma sich wieder¬
findet. Es wäre eine lohnende Ausgabe, den mannigfaltigen Motiven nach-


während zu ihren Füßen der jugendliche Orontes in der Haltung eines
Schwimmers mit halbem Leibe aus dem Boden hervorragt. Es ist ein an¬
schauliches, wohlgelungenes Bild der Oertlichkeit nach Lage und Bedeutung.
Weit ansprechender jedoch ist eine ähnliche Aufgabe in einer der lieblichsten
Antiken gelöst, in der vaticanischen Statue des Nil. Es galt, diesen Fluß
als den Urquell der wunderbaren Fruchtbarkeit Aegyptens darzustellen. Kein
Regen netzt je das Land, sondern nur das regelmäßige Steigen des Nils
bringt den reißen Segen hervor. Wie griff nun der Künstler seine Aufgabe
an? Zunächst war die allgemeine Bildung der Flußgötter längst festgestellt,
sie liegen am Boden hingestreckt — natürlich, denn wie sollte ein Fluß sich
vom Boden erheben können? Der „Vater Nil", wie der Name lautete, ent¬
sprechend unsrem „Vater Rhein", ward also als ein behaglich hingestreckter
Mann in vorgerückten Jahren dargestellt, Haar und Bart fließen gleichsam
naß herab; die ägyptische Localität wird durch die Sphinx, aus die der Gott
sich stützt, und durch Krokodil und Ichneumon zu seinen Füßen bezeichnet, der
Reichthum durch das Füllhorn. Aber noch nicht genug. Der Vater Nil ist
von einer ganzen Kinderschaar umgeben und gleichsam umrahmt; sie spielen
mit dem Ichneumon, sie reiten auf dem Krokodil, sie schwingen sich auf die
Beine des Alten, klettern zu seinen Armen hinauf, immer höher und höher,
bis einer endlich auf seiner Schulter Platz genommen hat und triumphirend
auf die Binde weist, welche das reiche Haar des Gottes umgibt, ein zweiter
aber mit dem vollendeten Ausdruck des Wohlbehagens mitten aus den Früch¬
ten oben im Füllhorn hervorschaut. Es ist ein Bild unendlichen Reichthums,
unendlichen Lebens, welches in dieser Kinderfülle sprudelt, ohne daß der Ein¬
druck behaglicher Ruhe in der Figur des Alten irgendwie beeinträchtigt oder
die schönen Linien seines Körpers undeutlich würden. Und zählen wir nun
die Kleinen, da sind es sechzehn — die sechzehn Ellen, welche der Nil noto¬
risch steigen muß, um den größten Segen über das Land auszuschütten!
Gottlob auch hier wieder, daß wir das nicht zu wissen brauchen, um uns an
dem reizenden Bilde zu freuen. Daß dies möglich ist, darin bewährt sich
eben der Meister als wahren Künstler, weit erhaben über die frostige Alle¬
gorie seines Concetto.

Es ist der Geist des Idylls, welcher diese geniale Conception durch¬
weht, das heißt derjenigen Dichtungsart, welche unter den poetischen Leistun¬
gen der Alexandriner obenan steht. Dem Idyll verwandt ist in der bilden¬
den Kunst das Genre, das vor Allem so gern in die Kinderwelt flüchtet.
Die alte Kunst offenbart eine außerordentliche Meisterschaft in der Dar¬
stellung von Kinderfiguren und ihren naiven Beschäftigungen, wie sie von
neueren Meistern fast nur bei Raphael, Correggio und Sodoma sich wieder¬
findet. Es wäre eine lohnende Ausgabe, den mannigfaltigen Motiven nach-


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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/416>, abgerufen am 04.07.2024.