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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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burschen (Alte und Tenöre, drei und vierstimmig), Nachbarinnen (vier und
sünfstimmig), Nachbarn (Tenöre und Bässe, vier und fünfstimmig). Gesellen
(Tenöre und Bässe, zweistimmig) und Meister (Bässe). Dazwischen hinein
singen fast sämmtliche in der Oper vorkommende Solisten. Jede Stimme
singt gleichzeitig andere Töne, andere Motive, andere Worte. Bei einem
solchen siebzehn- oder zwanzigstimmigen Gesang kann das Resultat kein
anderes als ein Chaos sein, das für ein Normalohr zu entwirren unmög¬
lich ist. Liegt doch die eigentliche Kunst des musikalischen Satzes nicht in
seiner Vielstimmigkeit, sondern in seiner Klarheit, Uebersichtlichkeit und Wirt,
sanken. In den Solopartien kommen vierzehn Männerstimmen vor. Zwölf
derselben, die Meistersinger, singen in der Regel gleichzeitig. Selbstverständ¬
lich läßt Wagner die vier Tenöre und acht Bässe immer auch in einem poly¬
phonen zwölsstimmigen Satz singen. Die tiefe Lage der Männerstimmen ist
einer solchen Verwendung überhaupt.ungünstig, werden nun die Stimmen
nicht in einfachen Harmonien klar gruppirt und glücklich vom Orchester unter¬
stützt, so entsteht ein unverständliches Durcheinanderschreien. Treten noch
Chormassen zu diesen zersplitterten Solostimmen, so ist das Einzelne vollends
nicht mehr zu unterscheiden. Und so sehr es Wagner liebt, vielstimmig zu
schreiben, so besteht doch darin seine geringste Kunstfertigkeit. Er häuft die
Motive zu sehr, weiß sie nicht auseinander zu halten und in feste Gruppen zu¬
sammenzufassen, ja er scheint die Leistungsfähigkeit der einzelnen Stimmen
überhaupt gar nicht berechnen zu können.

Wie in der Behandlung des Gesangs und Orchesters ist der Tonsetzer
auch in der Anlage seiner Sätze maßlos; dieselben haben in der Regel eine
Ausdehnung, daß alle menschliche Geduld vor ihnen zu Schanden wird. Eine
Oper sollte überhaupt nie länger als höchstens drei Stunden spielen. Den
Sängern werden überdies physische Anstrengungen auferlegt, die sie zu Grunde
richten. Und zu solchen äußern Anstrengungen für die Ausführenden kom¬
men nun noch die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten einer jeden, auch der
kleinsten Partie. Keine Gesangsnummer fällt ins Ohr, läßt sich harmonisch
oder rhythmisch eintheilen, verspricht dem Sänger Dank oder Anerkennung.
Immer in Gefahr, vom Orchester übertönt zu werden, muß er fortwährend
stark und mit voller Stimme singen. Nur bei hingebendster Aufopferung
für die Sache oder bei einem eisernen Druck von oben wird es nach unsäg¬
lichen Mühen möglich werden, solche undankbare Ansprüche zu befriedigen.
Die Schwierigkeiten eines Werkes bilden an und für sich allerdings keinen
Ausstellungsgrund, aber sie müssen doch einen Zweck haben, eine erhöhte
Wirkung ermöglichen, der Sache eine brillante Außenseite sichern. Wo sie
nutzlos auf einander gehäuft sind, spurlos verhallen, die Kräfte zwecklos cr-
ermüden und verderben, werden sie Barbarei.


burschen (Alte und Tenöre, drei und vierstimmig), Nachbarinnen (vier und
sünfstimmig), Nachbarn (Tenöre und Bässe, vier und fünfstimmig). Gesellen
(Tenöre und Bässe, zweistimmig) und Meister (Bässe). Dazwischen hinein
singen fast sämmtliche in der Oper vorkommende Solisten. Jede Stimme
singt gleichzeitig andere Töne, andere Motive, andere Worte. Bei einem
solchen siebzehn- oder zwanzigstimmigen Gesang kann das Resultat kein
anderes als ein Chaos sein, das für ein Normalohr zu entwirren unmög¬
lich ist. Liegt doch die eigentliche Kunst des musikalischen Satzes nicht in
seiner Vielstimmigkeit, sondern in seiner Klarheit, Uebersichtlichkeit und Wirt,
sanken. In den Solopartien kommen vierzehn Männerstimmen vor. Zwölf
derselben, die Meistersinger, singen in der Regel gleichzeitig. Selbstverständ¬
lich läßt Wagner die vier Tenöre und acht Bässe immer auch in einem poly¬
phonen zwölsstimmigen Satz singen. Die tiefe Lage der Männerstimmen ist
einer solchen Verwendung überhaupt.ungünstig, werden nun die Stimmen
nicht in einfachen Harmonien klar gruppirt und glücklich vom Orchester unter¬
stützt, so entsteht ein unverständliches Durcheinanderschreien. Treten noch
Chormassen zu diesen zersplitterten Solostimmen, so ist das Einzelne vollends
nicht mehr zu unterscheiden. Und so sehr es Wagner liebt, vielstimmig zu
schreiben, so besteht doch darin seine geringste Kunstfertigkeit. Er häuft die
Motive zu sehr, weiß sie nicht auseinander zu halten und in feste Gruppen zu¬
sammenzufassen, ja er scheint die Leistungsfähigkeit der einzelnen Stimmen
überhaupt gar nicht berechnen zu können.

Wie in der Behandlung des Gesangs und Orchesters ist der Tonsetzer
auch in der Anlage seiner Sätze maßlos; dieselben haben in der Regel eine
Ausdehnung, daß alle menschliche Geduld vor ihnen zu Schanden wird. Eine
Oper sollte überhaupt nie länger als höchstens drei Stunden spielen. Den
Sängern werden überdies physische Anstrengungen auferlegt, die sie zu Grunde
richten. Und zu solchen äußern Anstrengungen für die Ausführenden kom¬
men nun noch die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten einer jeden, auch der
kleinsten Partie. Keine Gesangsnummer fällt ins Ohr, läßt sich harmonisch
oder rhythmisch eintheilen, verspricht dem Sänger Dank oder Anerkennung.
Immer in Gefahr, vom Orchester übertönt zu werden, muß er fortwährend
stark und mit voller Stimme singen. Nur bei hingebendster Aufopferung
für die Sache oder bei einem eisernen Druck von oben wird es nach unsäg¬
lichen Mühen möglich werden, solche undankbare Ansprüche zu befriedigen.
Die Schwierigkeiten eines Werkes bilden an und für sich allerdings keinen
Ausstellungsgrund, aber sie müssen doch einen Zweck haben, eine erhöhte
Wirkung ermöglichen, der Sache eine brillante Außenseite sichern. Wo sie
nutzlos auf einander gehäuft sind, spurlos verhallen, die Kräfte zwecklos cr-
ermüden und verderben, werden sie Barbarei.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/41>, abgerufen am 30.06.2024.