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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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zu häufig etwas hartes und rohes. Motiv häuft sich auf Motiv. Während
der Sänger in den geschlechtslosen Harmonien, die weder Dur noch Moll,
weder Tonart noch Accord bestimmt erkennen lassen, vergebens den leitenden
Faden festzuhalten suchte, ergeht sich das Orchester in den künstlichsten Ver¬
flechtungen widerstreitender Themate, die der Componist aufgreift und wie¬
der fallen läßt, ohne zu einer wirklichen Durcharbeitung gekommen zu sein.
Alle diese Motive sind aber nur Malereien, welche die Worte der Sänger
illustriren sollen. So entsteht denn eine Mosaikarbeit, die es zu keinem
großen, bedeutenden Tonstück kommen läßt und das ganze umfangreiche
Werk in unübersehbar viele Theile zerbröckelt. Jeden Augenblick taucht ein
anderes Bild auf. das sofort wieder zerrinnt, um neuen Tonverbindungen
Platz zu machen. Dieser Umstand macht dem aufmerksamen Hörer den Ge¬
nuß der Wagnerschen Musik ungemein schwer und anstrengend, es wird ihm
sehr bald unmöglich, dieser Masse von Tönen und Verschlingungen im Ge¬
danken zu folgen. Eine Oper, die fünf Stunden spielt, darf ihre Wirkung
nicht fast ausschließlich in der Feinheit der Harmonik, in der künstlichen Ver¬
flechtung motivischer Arbeit, in der ängstlichsten Sorgfalt der Ausarbeitung
jedes besonderen Theiles und Theilchens suchen, sie erfordert vor Allem pla¬
stische Formen, prägnantes Hervortreten einzelner Hauptpartien, energische,
große, freie Züge. Wagner scheint seine Opern ähnlich wie unsere modernen
Phantasiecomvonisten ihre Claviermodeartikel, nach einem gewissen Schema
zu arbeiten. Daher begegnen wir in allen gewissen bekannten Dingen. So
hat auch in den Meistersingern jede Person ihr bestimmtes Motiv, das wie
der Schatten neben ihr hergeht. Eine solche Manier beeinträchtigt die
geistige Freiheit des Autors. Er schafft nicht mehr von innen heraus, er
verändert nur bekannte Bilder durch neue Zuthaten. Die Charaktermalerei,
die ihre Motive je nach Lage, Situation und Empfindung neu gestalten
sollte, verblaßt und verschwimmt unversehens. In den Meistersingern finden
wir Orchester- und Gesangspartien in unendliche Theile gespalten. Die
Streichinstrumente, von ältern Componisten gewöhnlich vier, höchstens sechs¬
stimmig behandelt, theilen sich bei Wagner in zwölf bis sechzehn Stimmen;
die Blasinstrumente sind drei und vierfach vermehrt um zu den vom Ton¬
setzer beliebten auffallenden Tonmischungen das Material zu liefern. Ebenso
ist der Chor nicht selten in zwölf Partien zersetzt, jede Stimme in drei. Der
Männerchor hat in der Regel sechs Stimmen zu vertreten. Durch solche
Zersplitterung aber wird fast jede Stimme zur Solopartie; sie vermag nicht
mehr als Chorstimme zu wirken und der Zuhörer kann gegenüber dem star¬
ken Orchester nicht nur die einzelnen Stimmen nur unklar unterscheiden, er
merkt häufig blos an den in Bewegung befindlichen Lippen der Choristen
daß der Chor singt. Einmal treten fünf Chöre zusammen, nämlich Lehr-


zu häufig etwas hartes und rohes. Motiv häuft sich auf Motiv. Während
der Sänger in den geschlechtslosen Harmonien, die weder Dur noch Moll,
weder Tonart noch Accord bestimmt erkennen lassen, vergebens den leitenden
Faden festzuhalten suchte, ergeht sich das Orchester in den künstlichsten Ver¬
flechtungen widerstreitender Themate, die der Componist aufgreift und wie¬
der fallen läßt, ohne zu einer wirklichen Durcharbeitung gekommen zu sein.
Alle diese Motive sind aber nur Malereien, welche die Worte der Sänger
illustriren sollen. So entsteht denn eine Mosaikarbeit, die es zu keinem
großen, bedeutenden Tonstück kommen läßt und das ganze umfangreiche
Werk in unübersehbar viele Theile zerbröckelt. Jeden Augenblick taucht ein
anderes Bild auf. das sofort wieder zerrinnt, um neuen Tonverbindungen
Platz zu machen. Dieser Umstand macht dem aufmerksamen Hörer den Ge¬
nuß der Wagnerschen Musik ungemein schwer und anstrengend, es wird ihm
sehr bald unmöglich, dieser Masse von Tönen und Verschlingungen im Ge¬
danken zu folgen. Eine Oper, die fünf Stunden spielt, darf ihre Wirkung
nicht fast ausschließlich in der Feinheit der Harmonik, in der künstlichen Ver¬
flechtung motivischer Arbeit, in der ängstlichsten Sorgfalt der Ausarbeitung
jedes besonderen Theiles und Theilchens suchen, sie erfordert vor Allem pla¬
stische Formen, prägnantes Hervortreten einzelner Hauptpartien, energische,
große, freie Züge. Wagner scheint seine Opern ähnlich wie unsere modernen
Phantasiecomvonisten ihre Claviermodeartikel, nach einem gewissen Schema
zu arbeiten. Daher begegnen wir in allen gewissen bekannten Dingen. So
hat auch in den Meistersingern jede Person ihr bestimmtes Motiv, das wie
der Schatten neben ihr hergeht. Eine solche Manier beeinträchtigt die
geistige Freiheit des Autors. Er schafft nicht mehr von innen heraus, er
verändert nur bekannte Bilder durch neue Zuthaten. Die Charaktermalerei,
die ihre Motive je nach Lage, Situation und Empfindung neu gestalten
sollte, verblaßt und verschwimmt unversehens. In den Meistersingern finden
wir Orchester- und Gesangspartien in unendliche Theile gespalten. Die
Streichinstrumente, von ältern Componisten gewöhnlich vier, höchstens sechs¬
stimmig behandelt, theilen sich bei Wagner in zwölf bis sechzehn Stimmen;
die Blasinstrumente sind drei und vierfach vermehrt um zu den vom Ton¬
setzer beliebten auffallenden Tonmischungen das Material zu liefern. Ebenso
ist der Chor nicht selten in zwölf Partien zersetzt, jede Stimme in drei. Der
Männerchor hat in der Regel sechs Stimmen zu vertreten. Durch solche
Zersplitterung aber wird fast jede Stimme zur Solopartie; sie vermag nicht
mehr als Chorstimme zu wirken und der Zuhörer kann gegenüber dem star¬
ken Orchester nicht nur die einzelnen Stimmen nur unklar unterscheiden, er
merkt häufig blos an den in Bewegung befindlichen Lippen der Choristen
daß der Chor singt. Einmal treten fünf Chöre zusammen, nämlich Lehr-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/40>, abgerufen am 30.06.2024.