Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dessen Hände hinter dem Rücken gefesselt waren, da lag eben in dieser Ver¬
allgemeinerung des Gedankens der Grund, weshalb der höfische Künstler zur
Allegorie gegriffen hatte. Feiner noch wußte Protogenes, neben Apelles der
bedeutendste Maler der Zeit zu schmeicheln. Er stellte dem Könige den Gott
Pan zur Seite. Der bocksfüßige Dämon hatte einst den andern Zeussohn
Bacchus auf seinem Eroberungszuge gen Indien als Generalfeldmarschall be¬
gleitet (so zeigen ihn uns die alten Kunstwerke) und panischen Schrecken
unter den Feinden verbreitet; er bezeichnet also hier den neuen Besieger In¬
diens und des Orients als einen zweiten Bacchus. Uebler noch steht es um
die Allegorie, wenn sie zu schwer verständlichen Personifikationen oder gar
zur Darstellung von Abstraktionen greift. Von demselben Protogenes zeigte
man in Athen ein Gemälde, welches im Publikum den Namen "Nausikaa"
führte. Ein Mann mit der Schiffermütze stand einer Frau gegenüber; darin
glaubte man die reizende Scene der Odyssee zu erkennen. Aber weit gefehlt:
der Künstler hatte durch ein Beiwerk von kleinen Kriegsschiffen angedeutet,
daß es die Repräsentanten der beiden attischen Staatsschiffe, der Schifferheros
Paralos und die Ammonias sein sollten! Gewiß war es ein Vorzug des
Bildes, daß man diesen tieferen Sinn nicht zu kennen brauchte und sich doch
an der schönen Darstellung freuen konnte. Einer Hofintrigue, in welche
Apelles durch seinen Kunstgenossen und Nebenbuhler Antiphilos verwickelt
ward, verdankte dessen "Verleumdung" ihren Ursprung, jene in der florenti-
nischen Renaissancekunst nachgeahmte tolle Gerichtsscene, in der alle möglichen
Untugenden in Menschengestalt -- Verleumdung und Neid, Trug und Arg¬
list, Thorheit und Argwohn -- den unschuldig Verfolgten wie den thörichten
Richter mit seinen Eselsohren umringten. Hoffentlich standen Namen dabei,
um diese Prograwmkunst verständlich zu machen. Nur Apelles' bestechende
Anmuth und Virtuosität konnten über das Unkünstlerische solcher Werke hin-
wegtäuschen. Auch hier zeigt sich die Sculptur zurückhaltender; so viel wir
Wenigstens zu erkennen vermögen, steht Lysipps Kairos, die Personification des
günstigen Augenblicks, zunächst ziemlich vereinzelt da. Abstract genug ist
freilich die Symbolik: der geflügelte Schritt, das Scheermesser, welches nur
durch die Redensart "es steht auf der Schärfe des Messers" von dem haar¬
scharfen Moment der Entscheidung erklärt wird, das kahle Hinterhaupt und
die einsame Stirnlocke, welche noch schärfer als unser Wort "die Gelegenheit
beim Schöpfe packen" daran mahnt, daß man die herankommende Gelegen¬
heit ergreifen muß.

Hatten schon die Künstler der vorigen Periode, angeregt durch die Be¬
griffsspaltungen der Philosophie und durch die scharfen Distinctionen der
Redner und Rhetoren bisweilen versucht, das Wesen einer Gottheit in seine
verschiedenen Seiten zu zerlegen und in getrennten Personen darzustellen, so


48"

dessen Hände hinter dem Rücken gefesselt waren, da lag eben in dieser Ver¬
allgemeinerung des Gedankens der Grund, weshalb der höfische Künstler zur
Allegorie gegriffen hatte. Feiner noch wußte Protogenes, neben Apelles der
bedeutendste Maler der Zeit zu schmeicheln. Er stellte dem Könige den Gott
Pan zur Seite. Der bocksfüßige Dämon hatte einst den andern Zeussohn
Bacchus auf seinem Eroberungszuge gen Indien als Generalfeldmarschall be¬
gleitet (so zeigen ihn uns die alten Kunstwerke) und panischen Schrecken
unter den Feinden verbreitet; er bezeichnet also hier den neuen Besieger In¬
diens und des Orients als einen zweiten Bacchus. Uebler noch steht es um
die Allegorie, wenn sie zu schwer verständlichen Personifikationen oder gar
zur Darstellung von Abstraktionen greift. Von demselben Protogenes zeigte
man in Athen ein Gemälde, welches im Publikum den Namen „Nausikaa"
führte. Ein Mann mit der Schiffermütze stand einer Frau gegenüber; darin
glaubte man die reizende Scene der Odyssee zu erkennen. Aber weit gefehlt:
der Künstler hatte durch ein Beiwerk von kleinen Kriegsschiffen angedeutet,
daß es die Repräsentanten der beiden attischen Staatsschiffe, der Schifferheros
Paralos und die Ammonias sein sollten! Gewiß war es ein Vorzug des
Bildes, daß man diesen tieferen Sinn nicht zu kennen brauchte und sich doch
an der schönen Darstellung freuen konnte. Einer Hofintrigue, in welche
Apelles durch seinen Kunstgenossen und Nebenbuhler Antiphilos verwickelt
ward, verdankte dessen „Verleumdung" ihren Ursprung, jene in der florenti-
nischen Renaissancekunst nachgeahmte tolle Gerichtsscene, in der alle möglichen
Untugenden in Menschengestalt — Verleumdung und Neid, Trug und Arg¬
list, Thorheit und Argwohn — den unschuldig Verfolgten wie den thörichten
Richter mit seinen Eselsohren umringten. Hoffentlich standen Namen dabei,
um diese Prograwmkunst verständlich zu machen. Nur Apelles' bestechende
Anmuth und Virtuosität konnten über das Unkünstlerische solcher Werke hin-
wegtäuschen. Auch hier zeigt sich die Sculptur zurückhaltender; so viel wir
Wenigstens zu erkennen vermögen, steht Lysipps Kairos, die Personification des
günstigen Augenblicks, zunächst ziemlich vereinzelt da. Abstract genug ist
freilich die Symbolik: der geflügelte Schritt, das Scheermesser, welches nur
durch die Redensart „es steht auf der Schärfe des Messers" von dem haar¬
scharfen Moment der Entscheidung erklärt wird, das kahle Hinterhaupt und
die einsame Stirnlocke, welche noch schärfer als unser Wort „die Gelegenheit
beim Schöpfe packen" daran mahnt, daß man die herankommende Gelegen¬
heit ergreifen muß.

Hatten schon die Künstler der vorigen Periode, angeregt durch die Be¬
griffsspaltungen der Philosophie und durch die scharfen Distinctionen der
Redner und Rhetoren bisweilen versucht, das Wesen einer Gottheit in seine
verschiedenen Seiten zu zerlegen und in getrennten Personen darzustellen, so


48"
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0407" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287119"/>
          <p xml:id="ID_1038" prev="#ID_1037"> dessen Hände hinter dem Rücken gefesselt waren, da lag eben in dieser Ver¬<lb/>
allgemeinerung des Gedankens der Grund, weshalb der höfische Künstler zur<lb/>
Allegorie gegriffen hatte. Feiner noch wußte Protogenes, neben Apelles der<lb/>
bedeutendste Maler der Zeit zu schmeicheln. Er stellte dem Könige den Gott<lb/>
Pan zur Seite. Der bocksfüßige Dämon hatte einst den andern Zeussohn<lb/>
Bacchus auf seinem Eroberungszuge gen Indien als Generalfeldmarschall be¬<lb/>
gleitet (so zeigen ihn uns die alten Kunstwerke) und panischen Schrecken<lb/>
unter den Feinden verbreitet; er bezeichnet also hier den neuen Besieger In¬<lb/>
diens und des Orients als einen zweiten Bacchus. Uebler noch steht es um<lb/>
die Allegorie, wenn sie zu schwer verständlichen Personifikationen oder gar<lb/>
zur Darstellung von Abstraktionen greift. Von demselben Protogenes zeigte<lb/>
man in Athen ein Gemälde, welches im Publikum den Namen &#x201E;Nausikaa"<lb/>
führte. Ein Mann mit der Schiffermütze stand einer Frau gegenüber; darin<lb/>
glaubte man die reizende Scene der Odyssee zu erkennen. Aber weit gefehlt:<lb/>
der Künstler hatte durch ein Beiwerk von kleinen Kriegsschiffen angedeutet,<lb/>
daß es die Repräsentanten der beiden attischen Staatsschiffe, der Schifferheros<lb/>
Paralos und die Ammonias sein sollten! Gewiß war es ein Vorzug des<lb/>
Bildes, daß man diesen tieferen Sinn nicht zu kennen brauchte und sich doch<lb/>
an der schönen Darstellung freuen konnte. Einer Hofintrigue, in welche<lb/>
Apelles durch seinen Kunstgenossen und Nebenbuhler Antiphilos verwickelt<lb/>
ward, verdankte dessen &#x201E;Verleumdung" ihren Ursprung, jene in der florenti-<lb/>
nischen Renaissancekunst nachgeahmte tolle Gerichtsscene, in der alle möglichen<lb/>
Untugenden in Menschengestalt &#x2014; Verleumdung und Neid, Trug und Arg¬<lb/>
list, Thorheit und Argwohn &#x2014; den unschuldig Verfolgten wie den thörichten<lb/>
Richter mit seinen Eselsohren umringten. Hoffentlich standen Namen dabei,<lb/>
um diese Prograwmkunst verständlich zu machen. Nur Apelles' bestechende<lb/>
Anmuth und Virtuosität konnten über das Unkünstlerische solcher Werke hin-<lb/>
wegtäuschen. Auch hier zeigt sich die Sculptur zurückhaltender; so viel wir<lb/>
Wenigstens zu erkennen vermögen, steht Lysipps Kairos, die Personification des<lb/>
günstigen Augenblicks, zunächst ziemlich vereinzelt da. Abstract genug ist<lb/>
freilich die Symbolik: der geflügelte Schritt, das Scheermesser, welches nur<lb/>
durch die Redensart &#x201E;es steht auf der Schärfe des Messers" von dem haar¬<lb/>
scharfen Moment der Entscheidung erklärt wird, das kahle Hinterhaupt und<lb/>
die einsame Stirnlocke, welche noch schärfer als unser Wort &#x201E;die Gelegenheit<lb/>
beim Schöpfe packen" daran mahnt, daß man die herankommende Gelegen¬<lb/>
heit ergreifen muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1039" next="#ID_1040"> Hatten schon die Künstler der vorigen Periode, angeregt durch die Be¬<lb/>
griffsspaltungen der Philosophie und durch die scharfen Distinctionen der<lb/>
Redner und Rhetoren bisweilen versucht, das Wesen einer Gottheit in seine<lb/>
verschiedenen Seiten zu zerlegen und in getrennten Personen darzustellen, so</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 48"</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0407] dessen Hände hinter dem Rücken gefesselt waren, da lag eben in dieser Ver¬ allgemeinerung des Gedankens der Grund, weshalb der höfische Künstler zur Allegorie gegriffen hatte. Feiner noch wußte Protogenes, neben Apelles der bedeutendste Maler der Zeit zu schmeicheln. Er stellte dem Könige den Gott Pan zur Seite. Der bocksfüßige Dämon hatte einst den andern Zeussohn Bacchus auf seinem Eroberungszuge gen Indien als Generalfeldmarschall be¬ gleitet (so zeigen ihn uns die alten Kunstwerke) und panischen Schrecken unter den Feinden verbreitet; er bezeichnet also hier den neuen Besieger In¬ diens und des Orients als einen zweiten Bacchus. Uebler noch steht es um die Allegorie, wenn sie zu schwer verständlichen Personifikationen oder gar zur Darstellung von Abstraktionen greift. Von demselben Protogenes zeigte man in Athen ein Gemälde, welches im Publikum den Namen „Nausikaa" führte. Ein Mann mit der Schiffermütze stand einer Frau gegenüber; darin glaubte man die reizende Scene der Odyssee zu erkennen. Aber weit gefehlt: der Künstler hatte durch ein Beiwerk von kleinen Kriegsschiffen angedeutet, daß es die Repräsentanten der beiden attischen Staatsschiffe, der Schifferheros Paralos und die Ammonias sein sollten! Gewiß war es ein Vorzug des Bildes, daß man diesen tieferen Sinn nicht zu kennen brauchte und sich doch an der schönen Darstellung freuen konnte. Einer Hofintrigue, in welche Apelles durch seinen Kunstgenossen und Nebenbuhler Antiphilos verwickelt ward, verdankte dessen „Verleumdung" ihren Ursprung, jene in der florenti- nischen Renaissancekunst nachgeahmte tolle Gerichtsscene, in der alle möglichen Untugenden in Menschengestalt — Verleumdung und Neid, Trug und Arg¬ list, Thorheit und Argwohn — den unschuldig Verfolgten wie den thörichten Richter mit seinen Eselsohren umringten. Hoffentlich standen Namen dabei, um diese Prograwmkunst verständlich zu machen. Nur Apelles' bestechende Anmuth und Virtuosität konnten über das Unkünstlerische solcher Werke hin- wegtäuschen. Auch hier zeigt sich die Sculptur zurückhaltender; so viel wir Wenigstens zu erkennen vermögen, steht Lysipps Kairos, die Personification des günstigen Augenblicks, zunächst ziemlich vereinzelt da. Abstract genug ist freilich die Symbolik: der geflügelte Schritt, das Scheermesser, welches nur durch die Redensart „es steht auf der Schärfe des Messers" von dem haar¬ scharfen Moment der Entscheidung erklärt wird, das kahle Hinterhaupt und die einsame Stirnlocke, welche noch schärfer als unser Wort „die Gelegenheit beim Schöpfe packen" daran mahnt, daß man die herankommende Gelegen¬ heit ergreifen muß. Hatten schon die Künstler der vorigen Periode, angeregt durch die Be¬ griffsspaltungen der Philosophie und durch die scharfen Distinctionen der Redner und Rhetoren bisweilen versucht, das Wesen einer Gottheit in seine verschiedenen Seiten zu zerlegen und in getrennten Personen darzustellen, so 48"

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/407
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/407>, abgerufen am 04.07.2024.