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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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auch die Sculptur. Unter den Göttergestalten der lysippischen Kunst nimmt
der olympische König und -sein kräftiger Sohn Herakles die erste Stelle ein.
Schon durch ihre Dimensionen imponiren diese Gebilde, denn sie sind zu
großem Theile kolossal dargestellt. Dabei zeigen sie aber auch oft eine höchst
eigenthümliche Auffassung. Die alte Götterbildnerei war, nachdem sie der
Darstellungsmittel Herr geworden, vor Allem daraus ausgegangen, den
Grundcharakter jeder Gottheit scharf zu erfassen und in der ganzen Fülle
seines Wesens zur Anschauung zu bringen. In diesem Sinne aufgefaßt
konnte nach der angestrengten Arbeit von fast anderthalb Jahrhunderten die
Aufgabe für erschöpft gelten. Aber im Drange, Neues zu schaffen, gelangte
man dahin, nicht mehr von dem bleibenden Grundcharakter der darzustellen¬
den Person auszugehen, sondern in einer speciellen Situation das Motiv
zu neuer Darstellung zu suchen. Je widerstreitender die Situation dem
Grundcharakter war, desto schwieriger 'ward die Aufgabe, aber auch desto
reizvoller, eben um des Contrastes willen. In der Villa Ludovisi sitzt der
rauhe Kriegsgott Ares, dessen lysippischer Charakter längst erkannt worden
ist, in Liebesträume versunken! Dazu hatte freilich schon die homerische Dich¬
tung Anlaß geboten, aber auch der materiellste und kräftigste aller Zeus¬
söhne, Herakles, in welchem eine frühere Zeit nur das Urbild männlicher
Energie und physischer Stärke gesehen hatte, ruht jetzt aus von allen Mühen,
bald stehend auf seine Keule gestützt, bald sitzend am Göttermahl.; als ob es
zum Wesen des Herakles gehörte, auszuruhen! Dessen scheinen diese Riesen¬
muskeln gar nicht zu bedürfen. Und vollends wird sein Ausdruck ganz sen¬
timental, schmerzvoll wie bei einem widerstandslos leidenden Dulder. Denn
auch er ist in die Gewalt der Liebe gerathen; ohne Waffen, das Haupt
trauernd auf die Hand gestützt, sitzt er auf dem Wollkorbe seiner Bezwinge¬
rin Omphale; und das wiederum als Koloß! Ein so raffinirtes Motiv
wäre früher kaum möglich gewesen; auch hier tritt der allgemeine Zug nach
Individualisirung, nach Vermenschlichung der göttlichen Wesen hervor. Die
gleiche Verwischung der Grenzen zeigt auch Apelles. Ob er Lais, Phryne,
Pankaste, die Maitressen des Königs und die Damen des griechischen De-
al-monde, oder ob er eine dem Meer entsteigende Aphrodite malte, das ließ
sich nicht mehr unterscheiden: hier wie dort kam es nur darauf an, die
Schönheit des Weibes in ihrer ganzen Pracht wirken zu lassend

Indessen nicht genug daß die Könige vergöttert wurden, noch ein andres
Mittel, von welchem kürzlich erst in dieser Zeitschrift die Rede war, setzte die
Kunst in Bewegung, um auf Umwegen Dinge zu sagen, welche man direct
nicht sagen wollte oder nicht sagen konnte: die Allegorie. Wenn Apelles
den Alexander auf seinem Triumphwagen darstellte nicht mit einem besiegten
Perser oder Inder hinter sich, sondern mit der Personification des Krieges,


auch die Sculptur. Unter den Göttergestalten der lysippischen Kunst nimmt
der olympische König und -sein kräftiger Sohn Herakles die erste Stelle ein.
Schon durch ihre Dimensionen imponiren diese Gebilde, denn sie sind zu
großem Theile kolossal dargestellt. Dabei zeigen sie aber auch oft eine höchst
eigenthümliche Auffassung. Die alte Götterbildnerei war, nachdem sie der
Darstellungsmittel Herr geworden, vor Allem daraus ausgegangen, den
Grundcharakter jeder Gottheit scharf zu erfassen und in der ganzen Fülle
seines Wesens zur Anschauung zu bringen. In diesem Sinne aufgefaßt
konnte nach der angestrengten Arbeit von fast anderthalb Jahrhunderten die
Aufgabe für erschöpft gelten. Aber im Drange, Neues zu schaffen, gelangte
man dahin, nicht mehr von dem bleibenden Grundcharakter der darzustellen¬
den Person auszugehen, sondern in einer speciellen Situation das Motiv
zu neuer Darstellung zu suchen. Je widerstreitender die Situation dem
Grundcharakter war, desto schwieriger 'ward die Aufgabe, aber auch desto
reizvoller, eben um des Contrastes willen. In der Villa Ludovisi sitzt der
rauhe Kriegsgott Ares, dessen lysippischer Charakter längst erkannt worden
ist, in Liebesträume versunken! Dazu hatte freilich schon die homerische Dich¬
tung Anlaß geboten, aber auch der materiellste und kräftigste aller Zeus¬
söhne, Herakles, in welchem eine frühere Zeit nur das Urbild männlicher
Energie und physischer Stärke gesehen hatte, ruht jetzt aus von allen Mühen,
bald stehend auf seine Keule gestützt, bald sitzend am Göttermahl.; als ob es
zum Wesen des Herakles gehörte, auszuruhen! Dessen scheinen diese Riesen¬
muskeln gar nicht zu bedürfen. Und vollends wird sein Ausdruck ganz sen¬
timental, schmerzvoll wie bei einem widerstandslos leidenden Dulder. Denn
auch er ist in die Gewalt der Liebe gerathen; ohne Waffen, das Haupt
trauernd auf die Hand gestützt, sitzt er auf dem Wollkorbe seiner Bezwinge¬
rin Omphale; und das wiederum als Koloß! Ein so raffinirtes Motiv
wäre früher kaum möglich gewesen; auch hier tritt der allgemeine Zug nach
Individualisirung, nach Vermenschlichung der göttlichen Wesen hervor. Die
gleiche Verwischung der Grenzen zeigt auch Apelles. Ob er Lais, Phryne,
Pankaste, die Maitressen des Königs und die Damen des griechischen De-
al-monde, oder ob er eine dem Meer entsteigende Aphrodite malte, das ließ
sich nicht mehr unterscheiden: hier wie dort kam es nur darauf an, die
Schönheit des Weibes in ihrer ganzen Pracht wirken zu lassend

Indessen nicht genug daß die Könige vergöttert wurden, noch ein andres
Mittel, von welchem kürzlich erst in dieser Zeitschrift die Rede war, setzte die
Kunst in Bewegung, um auf Umwegen Dinge zu sagen, welche man direct
nicht sagen wollte oder nicht sagen konnte: die Allegorie. Wenn Apelles
den Alexander auf seinem Triumphwagen darstellte nicht mit einem besiegten
Perser oder Inder hinter sich, sondern mit der Personification des Krieges,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/406>, abgerufen am 04.07.2024.