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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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unbedeutendsten Vorgänge in Deutschland, zumal wenn sie die Beziehungen
Oestreichs zu Preußen berührten, immer noch sehr viel interessanter, als die
Dinge ander Donau und am Bosporus, bat, nach den letzten Wochen zu urtheilen
vielleicht nicht ganz Unrecht. Der Grund davon ist allerdings in dem Umstände zu
suchen, daß Rußland weder Zeit noch Neigung hat, sich für die nächste Zu¬
kunft auf eine Aggression im europäischen Südosten einzulassen und daß die
südslavischen Versuche zur Selbsthilfe ungefährlich bleiben, so lange die nordi¬
sche Großmacht ihnen keine andere Unterstützung als die moralische bietet.
Freilich wird das Feuer von Athen her beständig geschürt; König Georgios,
dessen Gemahlin dem Lande vor Kurzem den erwarteten Thronerben geschenkt
hat, ist zufrieden, wenn sein Volk ihn nicht zu directer Initiative zwingt,
und läßt die Dinge den Gang nehmen, den der nationale Instinkt ihnen
angewiesen hat. Während der Frieden zwischen christlichen und moslemiti-
schen Anwohnern des Libanon immer wieder durch blutige Raufereien gestört
wird, verkünden griechische und russische Zeitungen, daß die aufständischen
Candioten immer wieder größere und kleinere Erfolge'gegen die großherrlichen
Truppen erfechten und das vergossene Blut der "unschuldigen" bulgarischen
Freischaaren opferfreudig rächen. Immerhin müssen die Nachrichten, welche
Prinz Napoleon aus Constantinopel heimgebracht hat, nicht ganz ungünstig
lauten, denn der Orient wird von den pariser Politikern nur sehr beiläufig
in Betracht gezogen.

Dasselbe gilt von England. Die Königin ist auf Reisen, die Diplomatie
feiert und das große Publikum rüstet zum Wahlkampf, in welchem natürlich
blos von inneren Fragen die Rede ist. da alle Parteien in ihren Wünschen
für bedingungslose Aufrechterhaltung des Friedens einig sind. Allen gegen¬
theiligen Wahrsagungen zum Trotz hat die d'Jsraeli'sche Wahlreform die
Physiognomie der brittischen Wahlagitation bis jetzt nicht verändert, und ist
von erweitertem Einfluß der Radicalen Nichts zu spüren. Die irische Kir¬
chenfrage steht an der Spitze der von Whigs und Tories aufgestellten Pro¬
gramme und die confessionellen und nationalen Gegensätze prävaliren vor den
specifisch-politischen, nachdem die zum Schluß der Parlamentssession gehaltene
Thronrede. Altengland noch ein Mal dazu gemahnt hat seiner "religiösen
Pflichten" eingedenk zu sein. d'Jsraeli's Anstrengungen zur Rettung der irischen
Staatskirche haben wenig Aussicht auf Erfolg; nicht nur daß das im Krystall¬
palast abgehaltene Torymeeting ein Fiasco gemacht hat. das selbst von den
Organen der ministeriellen Partei nicht in Abrede gestellt werden konnte, die
Hartherzigkeit, durch welche ein protestantischer Gutsbesitzer die Pächter von
Tipperary zu blutiger Gegenwehr veranlaßte, ist der Fluth, welche sich
gegen die bestehenden kirchlichen und staatlichen Einrichtungen der grünen
Insel heranwälzt, wesentlich Gute gekommen und zum Thema zahlreicher


unbedeutendsten Vorgänge in Deutschland, zumal wenn sie die Beziehungen
Oestreichs zu Preußen berührten, immer noch sehr viel interessanter, als die
Dinge ander Donau und am Bosporus, bat, nach den letzten Wochen zu urtheilen
vielleicht nicht ganz Unrecht. Der Grund davon ist allerdings in dem Umstände zu
suchen, daß Rußland weder Zeit noch Neigung hat, sich für die nächste Zu¬
kunft auf eine Aggression im europäischen Südosten einzulassen und daß die
südslavischen Versuche zur Selbsthilfe ungefährlich bleiben, so lange die nordi¬
sche Großmacht ihnen keine andere Unterstützung als die moralische bietet.
Freilich wird das Feuer von Athen her beständig geschürt; König Georgios,
dessen Gemahlin dem Lande vor Kurzem den erwarteten Thronerben geschenkt
hat, ist zufrieden, wenn sein Volk ihn nicht zu directer Initiative zwingt,
und läßt die Dinge den Gang nehmen, den der nationale Instinkt ihnen
angewiesen hat. Während der Frieden zwischen christlichen und moslemiti-
schen Anwohnern des Libanon immer wieder durch blutige Raufereien gestört
wird, verkünden griechische und russische Zeitungen, daß die aufständischen
Candioten immer wieder größere und kleinere Erfolge'gegen die großherrlichen
Truppen erfechten und das vergossene Blut der „unschuldigen" bulgarischen
Freischaaren opferfreudig rächen. Immerhin müssen die Nachrichten, welche
Prinz Napoleon aus Constantinopel heimgebracht hat, nicht ganz ungünstig
lauten, denn der Orient wird von den pariser Politikern nur sehr beiläufig
in Betracht gezogen.

Dasselbe gilt von England. Die Königin ist auf Reisen, die Diplomatie
feiert und das große Publikum rüstet zum Wahlkampf, in welchem natürlich
blos von inneren Fragen die Rede ist. da alle Parteien in ihren Wünschen
für bedingungslose Aufrechterhaltung des Friedens einig sind. Allen gegen¬
theiligen Wahrsagungen zum Trotz hat die d'Jsraeli'sche Wahlreform die
Physiognomie der brittischen Wahlagitation bis jetzt nicht verändert, und ist
von erweitertem Einfluß der Radicalen Nichts zu spüren. Die irische Kir¬
chenfrage steht an der Spitze der von Whigs und Tories aufgestellten Pro¬
gramme und die confessionellen und nationalen Gegensätze prävaliren vor den
specifisch-politischen, nachdem die zum Schluß der Parlamentssession gehaltene
Thronrede. Altengland noch ein Mal dazu gemahnt hat seiner „religiösen
Pflichten" eingedenk zu sein. d'Jsraeli's Anstrengungen zur Rettung der irischen
Staatskirche haben wenig Aussicht auf Erfolg; nicht nur daß das im Krystall¬
palast abgehaltene Torymeeting ein Fiasco gemacht hat. das selbst von den
Organen der ministeriellen Partei nicht in Abrede gestellt werden konnte, die
Hartherzigkeit, durch welche ein protestantischer Gutsbesitzer die Pächter von
Tipperary zu blutiger Gegenwehr veranlaßte, ist der Fluth, welche sich
gegen die bestehenden kirchlichen und staatlichen Einrichtungen der grünen
Insel heranwälzt, wesentlich Gute gekommen und zum Thema zahlreicher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/380>, abgerufen am 04.07.2024.