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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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des Geschmackes und an der Lähmung der sittlichen That- und Schöpferkraft
den größten Theil haben? Hier wäre das Feld für eine Censur -- weil hier
Reform unbeschreiblich noth thut. -- Vergessen wir es nicht, daß mit dem
Verlust des Glaubens an das Unsichtbare, Heilige und Reine im Leben --
Ueberdruß und Ironie das verlassene Herz ergreifen und jeden Aufschwung
lahmen müssen. Der Mensch ringt dann noch vielleicht wie im Traume, das
Wort zu finden, das aus dem Bann, der seine Sinne gefangen nahm, er¬
löst, aber er hält nur noch die Buchstaben, und kann sie nicht mehr zum Sinne
vereinigen. -- Zu diesen Unmündigen, welche die hohe Geistersprache nur in
Silben stammeln statt mit Feuerzungen zu uns zu reden, gehört Gerüme,
der mit sinnlichem Formtalent sonst hoch begabte Meister! Von dem großen
Hergange der Passion gibt er uns nur den wesenlosen Schatten und nicht
einmal durch das materielle, physische Gesetz berechtigt, -- denn wie? wenn
Finsterniß das Land deckt, und das Sonnenbilo selbst halb verdunkelt am
Horizont steht, kann der Schatten der Dinge dann gegen die Lichtquelle
hinfallen? woher hat Herrn Gerümes Geist denn seine Erleuchtung, um zu
den Wundern, welche den größten Moment unserer Geschichte kennzeichneten,
noch so Unsinniges hinzu zu dichten?

Gervme's zweites Bild ist noch absurder. -- Sein Titel: "9. Mai, 7 Uhr
Morgens", gibt dem nicht ganz Geschichtsfesten, abermals zu rathen, daß
die verhüllte in Mantel und Escarpins vor einer steifdiagonalen Mauer hin¬
gestreckte Gestalt, der ein altmodischer Hut entfallen ist, die Leiche des auf
Befehl Ludwigs XVIII. erschossenen Marschall Ney vorstellen solle. Ein in der
Ferne abziehendes Piket Soldaten, einige noch brennende Patronen am Bo¬
den, und das an der Kellerwand ausgekratzre "vivs l'Lmpersur" neben den
dort eingeschlagenen Kugeln, geben vor, uns die Geschichte zu erzählen. Als
Illustration eines Bilderbuches möchte eine so dürftige, unschöne Idee den
Tod eines Helden darzustellen allenfalls passiren. Aber die hiesige Kritik
ist durch Rücksichten paralysirt, und wagt schüchtern mit echt französischer
Urbanität, gegen gewichtige Namen kaum einen leisen Tadel, sonst hörten
die Großen des Kunstreichs wohl auch einmal Anderes, als die mitunter steif
genug erzwungenen Lobhudeleien. Von dem Meister dieser Zunft auf soge¬
nanntem stylistischen Gebiete -- von dem hochgefeierten Dor6 -- wird jetzt auch
bei Ihnen in Deutschland viel Wesen gemacht. Seine Prachtbibel, die Lucu-
bration schlafloser Nächte, unserer hiesigen Gesellschaft schon um ihrer pikan-
ten Entstehungsweise sympathisch, überfluthet den Kunstmarkt. Wir können
die Verbreitung derselben mit Ruhe ansehen. Schlimm freilich, wenn das
gesunde deutsche Publikum vorübergehend der Gefahr ausgesetzt wird, diese
Produkte überreizter Phantasie und übermächtiger Doppelsichtigkeit. die freilich
von originellen Einfällen strotzen, ernsthaften und tüchtigen Leistungen hei-


des Geschmackes und an der Lähmung der sittlichen That- und Schöpferkraft
den größten Theil haben? Hier wäre das Feld für eine Censur — weil hier
Reform unbeschreiblich noth thut. — Vergessen wir es nicht, daß mit dem
Verlust des Glaubens an das Unsichtbare, Heilige und Reine im Leben —
Ueberdruß und Ironie das verlassene Herz ergreifen und jeden Aufschwung
lahmen müssen. Der Mensch ringt dann noch vielleicht wie im Traume, das
Wort zu finden, das aus dem Bann, der seine Sinne gefangen nahm, er¬
löst, aber er hält nur noch die Buchstaben, und kann sie nicht mehr zum Sinne
vereinigen. — Zu diesen Unmündigen, welche die hohe Geistersprache nur in
Silben stammeln statt mit Feuerzungen zu uns zu reden, gehört Gerüme,
der mit sinnlichem Formtalent sonst hoch begabte Meister! Von dem großen
Hergange der Passion gibt er uns nur den wesenlosen Schatten und nicht
einmal durch das materielle, physische Gesetz berechtigt, — denn wie? wenn
Finsterniß das Land deckt, und das Sonnenbilo selbst halb verdunkelt am
Horizont steht, kann der Schatten der Dinge dann gegen die Lichtquelle
hinfallen? woher hat Herrn Gerümes Geist denn seine Erleuchtung, um zu
den Wundern, welche den größten Moment unserer Geschichte kennzeichneten,
noch so Unsinniges hinzu zu dichten?

Gervme's zweites Bild ist noch absurder. — Sein Titel: „9. Mai, 7 Uhr
Morgens", gibt dem nicht ganz Geschichtsfesten, abermals zu rathen, daß
die verhüllte in Mantel und Escarpins vor einer steifdiagonalen Mauer hin¬
gestreckte Gestalt, der ein altmodischer Hut entfallen ist, die Leiche des auf
Befehl Ludwigs XVIII. erschossenen Marschall Ney vorstellen solle. Ein in der
Ferne abziehendes Piket Soldaten, einige noch brennende Patronen am Bo¬
den, und das an der Kellerwand ausgekratzre „vivs l'Lmpersur" neben den
dort eingeschlagenen Kugeln, geben vor, uns die Geschichte zu erzählen. Als
Illustration eines Bilderbuches möchte eine so dürftige, unschöne Idee den
Tod eines Helden darzustellen allenfalls passiren. Aber die hiesige Kritik
ist durch Rücksichten paralysirt, und wagt schüchtern mit echt französischer
Urbanität, gegen gewichtige Namen kaum einen leisen Tadel, sonst hörten
die Großen des Kunstreichs wohl auch einmal Anderes, als die mitunter steif
genug erzwungenen Lobhudeleien. Von dem Meister dieser Zunft auf soge¬
nanntem stylistischen Gebiete — von dem hochgefeierten Dor6 — wird jetzt auch
bei Ihnen in Deutschland viel Wesen gemacht. Seine Prachtbibel, die Lucu-
bration schlafloser Nächte, unserer hiesigen Gesellschaft schon um ihrer pikan-
ten Entstehungsweise sympathisch, überfluthet den Kunstmarkt. Wir können
die Verbreitung derselben mit Ruhe ansehen. Schlimm freilich, wenn das
gesunde deutsche Publikum vorübergehend der Gefahr ausgesetzt wird, diese
Produkte überreizter Phantasie und übermächtiger Doppelsichtigkeit. die freilich
von originellen Einfällen strotzen, ernsthaften und tüchtigen Leistungen hei-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/311>, abgerufen am 04.07.2024.