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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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ewige Seligkeit nehmen." Der Troveor ließ sich dies nicht zweimal sagen,
sondern rannte "ZranÄ g.16urs", d. h. all, was er konnte, davon. Als der
heil. Petrus ihn an der Himmelsthür ankommen sah, beeilte er sich, dem
alten Bekannten und Spielkameraden die Pforte des ewigen Lebens aufzu¬
thun. "Daher", so schließt das Gedicht, "amüsirt euch hienieden nach Kräf¬
ten, ihr Troveors, die Qualen der Hölle braucht ihr nicht zu fürchten, denn
die Pforten des Reiches der Finsterniß sind euch verschlossen, seitdem unser
College die Seelen im Würfelspiel verlor."

Die Stoffe, welche die Troveors in den angeführten Arten kleinerer
Gedichte behandelten, sind entweder aus dem täglichen Leben genommene
Anscdoten, ernste und komische Ereignisse des Tages, Bonmots, oder Re¬
produktionen älterer Erzählungen und Märchen, die aus den verschiedensten,
oft sehr entlegenen, Quellen stammen. Griechische, römische und mittellatei¬
nische Schriftsteller, arabische und sogar indische Märchenbücher mußten ihre
Beiträge liefern. Es ist schwierig, diesen mannigfaltigen Stoff nach allge¬
meinen Gesichtspunkten zu classificiren; weder die Eintheilung in erzählende
und reflectirende, noch die in ernste und komische Gedichte läßt sich streng
durchführen, denn fast überall finden sich Erzählung und Reflexion, Ernst
und Scherz in unmittelbarer Verbindung und Vermischung. Wir wollen aus
den Werken Rutebeufs einige der hervorragendsten Erscheinungen heraus¬
greifen, und zwar namentlich solche, die Einblicke gewähren in den Zustand
der damaligen Gesellschaft und in die wichtigsten politischen Fragen, welche
die Zeit beschäftigten. Vorab müssen wir bemerken, daß überhaupt nur wenig
Gedichte aus jener Periode auf solches poetisches Verdienst Anspruch haben,
wie dies ja schon in den Stoffen selbst liegt. Es begegnen uns indessen in
der Art der Erzählung bereits Spuren jener anmuthigen Leichtigkeit der Dar¬
stellung, welche die Franzosen der späteren Zeit so sehr auszeichnet, und
welche Boileau mit dem treffenden Namen des slöZemt hacia^M bezeichnet
hat. In den Folianten der ernsten und trockenen Chronisten finden wir die
welterschütternden Ereignisse wie in einem Register verzeichnet, sowie dieselben
sich den Verfassern darstellten, nachdem sie vollendete Thatsachen geworden
waren; in den Dies, Fabliaux und.Cortes, flüchtigen Ergüssen der witzigsten,
geschwätzigsten und lockersten Gesellen des gallischen Volkes belauschen wir das
Geschwätz auf der Gasse, wie es büer die Größen der Zeit urtheilt, wir ver¬
folgen die Stimmungen, die Ideen der Menge, die allmählich zu Thaten und
Ereignissen führen, kurz, wir sind im Stande, Ereignisse, die bei den Chro¬
nisten unvorbereitet und unvermittelt in der ganzen Wucht ihrer Folgen¬
schwere hervortreten, auf ihre Bestandtheile, Elemente und Keime zurück¬
zuführen.

Unerschöpfliches Material für Witz und Satire bot der Clerus, Welt-


ewige Seligkeit nehmen." Der Troveor ließ sich dies nicht zweimal sagen,
sondern rannte „ZranÄ g.16urs", d. h. all, was er konnte, davon. Als der
heil. Petrus ihn an der Himmelsthür ankommen sah, beeilte er sich, dem
alten Bekannten und Spielkameraden die Pforte des ewigen Lebens aufzu¬
thun. „Daher", so schließt das Gedicht, „amüsirt euch hienieden nach Kräf¬
ten, ihr Troveors, die Qualen der Hölle braucht ihr nicht zu fürchten, denn
die Pforten des Reiches der Finsterniß sind euch verschlossen, seitdem unser
College die Seelen im Würfelspiel verlor."

Die Stoffe, welche die Troveors in den angeführten Arten kleinerer
Gedichte behandelten, sind entweder aus dem täglichen Leben genommene
Anscdoten, ernste und komische Ereignisse des Tages, Bonmots, oder Re¬
produktionen älterer Erzählungen und Märchen, die aus den verschiedensten,
oft sehr entlegenen, Quellen stammen. Griechische, römische und mittellatei¬
nische Schriftsteller, arabische und sogar indische Märchenbücher mußten ihre
Beiträge liefern. Es ist schwierig, diesen mannigfaltigen Stoff nach allge¬
meinen Gesichtspunkten zu classificiren; weder die Eintheilung in erzählende
und reflectirende, noch die in ernste und komische Gedichte läßt sich streng
durchführen, denn fast überall finden sich Erzählung und Reflexion, Ernst
und Scherz in unmittelbarer Verbindung und Vermischung. Wir wollen aus
den Werken Rutebeufs einige der hervorragendsten Erscheinungen heraus¬
greifen, und zwar namentlich solche, die Einblicke gewähren in den Zustand
der damaligen Gesellschaft und in die wichtigsten politischen Fragen, welche
die Zeit beschäftigten. Vorab müssen wir bemerken, daß überhaupt nur wenig
Gedichte aus jener Periode auf solches poetisches Verdienst Anspruch haben,
wie dies ja schon in den Stoffen selbst liegt. Es begegnen uns indessen in
der Art der Erzählung bereits Spuren jener anmuthigen Leichtigkeit der Dar¬
stellung, welche die Franzosen der späteren Zeit so sehr auszeichnet, und
welche Boileau mit dem treffenden Namen des slöZemt hacia^M bezeichnet
hat. In den Folianten der ernsten und trockenen Chronisten finden wir die
welterschütternden Ereignisse wie in einem Register verzeichnet, sowie dieselben
sich den Verfassern darstellten, nachdem sie vollendete Thatsachen geworden
waren; in den Dies, Fabliaux und.Cortes, flüchtigen Ergüssen der witzigsten,
geschwätzigsten und lockersten Gesellen des gallischen Volkes belauschen wir das
Geschwätz auf der Gasse, wie es büer die Größen der Zeit urtheilt, wir ver¬
folgen die Stimmungen, die Ideen der Menge, die allmählich zu Thaten und
Ereignissen führen, kurz, wir sind im Stande, Ereignisse, die bei den Chro¬
nisten unvorbereitet und unvermittelt in der ganzen Wucht ihrer Folgen¬
schwere hervortreten, auf ihre Bestandtheile, Elemente und Keime zurück¬
zuführen.

Unerschöpfliches Material für Witz und Satire bot der Clerus, Welt-


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[0274] ewige Seligkeit nehmen." Der Troveor ließ sich dies nicht zweimal sagen, sondern rannte „ZranÄ g.16urs", d. h. all, was er konnte, davon. Als der heil. Petrus ihn an der Himmelsthür ankommen sah, beeilte er sich, dem alten Bekannten und Spielkameraden die Pforte des ewigen Lebens aufzu¬ thun. „Daher", so schließt das Gedicht, „amüsirt euch hienieden nach Kräf¬ ten, ihr Troveors, die Qualen der Hölle braucht ihr nicht zu fürchten, denn die Pforten des Reiches der Finsterniß sind euch verschlossen, seitdem unser College die Seelen im Würfelspiel verlor." Die Stoffe, welche die Troveors in den angeführten Arten kleinerer Gedichte behandelten, sind entweder aus dem täglichen Leben genommene Anscdoten, ernste und komische Ereignisse des Tages, Bonmots, oder Re¬ produktionen älterer Erzählungen und Märchen, die aus den verschiedensten, oft sehr entlegenen, Quellen stammen. Griechische, römische und mittellatei¬ nische Schriftsteller, arabische und sogar indische Märchenbücher mußten ihre Beiträge liefern. Es ist schwierig, diesen mannigfaltigen Stoff nach allge¬ meinen Gesichtspunkten zu classificiren; weder die Eintheilung in erzählende und reflectirende, noch die in ernste und komische Gedichte läßt sich streng durchführen, denn fast überall finden sich Erzählung und Reflexion, Ernst und Scherz in unmittelbarer Verbindung und Vermischung. Wir wollen aus den Werken Rutebeufs einige der hervorragendsten Erscheinungen heraus¬ greifen, und zwar namentlich solche, die Einblicke gewähren in den Zustand der damaligen Gesellschaft und in die wichtigsten politischen Fragen, welche die Zeit beschäftigten. Vorab müssen wir bemerken, daß überhaupt nur wenig Gedichte aus jener Periode auf solches poetisches Verdienst Anspruch haben, wie dies ja schon in den Stoffen selbst liegt. Es begegnen uns indessen in der Art der Erzählung bereits Spuren jener anmuthigen Leichtigkeit der Dar¬ stellung, welche die Franzosen der späteren Zeit so sehr auszeichnet, und welche Boileau mit dem treffenden Namen des slöZemt hacia^M bezeichnet hat. In den Folianten der ernsten und trockenen Chronisten finden wir die welterschütternden Ereignisse wie in einem Register verzeichnet, sowie dieselben sich den Verfassern darstellten, nachdem sie vollendete Thatsachen geworden waren; in den Dies, Fabliaux und.Cortes, flüchtigen Ergüssen der witzigsten, geschwätzigsten und lockersten Gesellen des gallischen Volkes belauschen wir das Geschwätz auf der Gasse, wie es büer die Größen der Zeit urtheilt, wir ver¬ folgen die Stimmungen, die Ideen der Menge, die allmählich zu Thaten und Ereignissen führen, kurz, wir sind im Stande, Ereignisse, die bei den Chro¬ nisten unvorbereitet und unvermittelt in der ganzen Wucht ihrer Folgen¬ schwere hervortreten, auf ihre Bestandtheile, Elemente und Keime zurück¬ zuführen. Unerschöpfliches Material für Witz und Satire bot der Clerus, Welt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/274>, abgerufen am 04.07.2024.