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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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auf und steht wiederum vor einem schweigsamen, ungelösten Räthsel: drei
Colonnen mit finnischer, schwedischer und russischer Ueberschrift zeigen eine
Reihe undeutlich geschriebener Namen, die meist auf "black" "uns" oder "Strom"
enden und mit denen er nichts anzufangen weiß, wenn er nicht etwa chemisch
gelernt und dadurch die Möglichkeit erlangt hat, die stammverwandten
finnischen Ueberschriften "Name" "Stand" und "Bestimmungsort" des
Reisenden zu errathen. Er tritt in das Nebenzimmer und erblickt drei
Betten, die an der Wand stehen und auf welche eine einsame, braun ein¬
gerahmte Tafel melancholisch herabsieht; ihre Inschrift wiederholt die ge¬
heimnißvoll-unverständlichen Dialecte des Dagboks -- beigefügte Ziffern
lassen auf eine Art Taxe oder Tabelle schließen. Unterdessen hat der russische
Fuhrmann, ein munterer Bursche in rothem Hemde, dunkelfarbigem ärmel¬
losem Armjäck und schmal verändertem Hut, seine Pferde munter trillernd
abgespannt und periodisch mit der Peitsche geklatscht. Noch immer ist nirgend
etwas von Menschen zu hören und zu sehen; ist das Glück besonders gut, so ver¬
steht man, daß der Russe etwas wie "xroKlÄtüjö IsenueKonn" (verdammte
Finnen) murmelt und seinen Wunsch nach "Theegeld" (ein Euphemismus für
das Trinkgeld, das er in Branntwein anzulegen fest entschlossen ist), verlaut-
bart. Endlich zeigt sich ein baarhäuptiger Bursche von 16 Jahren, dessen
flachsblondes Haar deutliche Spuren einer auf dem Heuboden verbrachten
Siesta trägt; schweigend spannt er dieselbe Anzahl Pferde, welche das Ge¬
fährte des Russen zeigte, vor einen zweirädrigen Karren. an dessen Hinteren
Ende er sich einen Schaukelsitz improvisier. Seine großen blauen Augen
sehen den Reisenden so lange an, bis dieser sich in den Wagen gesetzt hat
-- dann stößt er einen kurzen Schrei aus, wahrscheinlich um symbolisch anzu¬
deuten, daß die Gabe der Sprache ihm nicht vollständig versagt sei, und fort
geht es in rasender Eile, Berg auf, Berg ab, über das Felsenplateau, zwischen
haushohen Granitblöcken, welche rings über das Land gesäet, hin, an mäch¬
tigen Seen vorüber, durch magere Kiefernwälder, an bodenlosen Sümpfen
vorbei, bis der felsige Weg den Reisenden und den lenkenden Knaben nach
etwa zweistündiger Fahrt wiederum vor ein zinnobergefärbtes Haus fährt.
Die frühere Scene wiederholt sich, nur daß die Hand des Knaben sich nach
dem Postgelde ausstreckt, das hier.postnumerando gezahlt wird; mit Sprech¬
versuchen wird keine Zeit verloren. Der Knabe-Lenker schüttelt das
Haupt, bis die entsprechende Anzahl papierner Marks (ein Mark -- 25 Co-
peken -- 1 Franc) in seiner Hand ist. Hat er außerdem ein Trinkgeld
erhalten, so zeigt er es seinem Nachfolger mit zufriedener oder unzufriedener
Miene -- eine halbe Mark bildet das Ordinarium -- und weiter geht die
Reise, bis endlich Wiborg, ein stattlicher Ort von ächt schwedischen Gepräge,
seine Thore aufthut.


auf und steht wiederum vor einem schweigsamen, ungelösten Räthsel: drei
Colonnen mit finnischer, schwedischer und russischer Ueberschrift zeigen eine
Reihe undeutlich geschriebener Namen, die meist auf „black" „uns" oder „Strom"
enden und mit denen er nichts anzufangen weiß, wenn er nicht etwa chemisch
gelernt und dadurch die Möglichkeit erlangt hat, die stammverwandten
finnischen Ueberschriften „Name" „Stand" und „Bestimmungsort" des
Reisenden zu errathen. Er tritt in das Nebenzimmer und erblickt drei
Betten, die an der Wand stehen und auf welche eine einsame, braun ein¬
gerahmte Tafel melancholisch herabsieht; ihre Inschrift wiederholt die ge¬
heimnißvoll-unverständlichen Dialecte des Dagboks — beigefügte Ziffern
lassen auf eine Art Taxe oder Tabelle schließen. Unterdessen hat der russische
Fuhrmann, ein munterer Bursche in rothem Hemde, dunkelfarbigem ärmel¬
losem Armjäck und schmal verändertem Hut, seine Pferde munter trillernd
abgespannt und periodisch mit der Peitsche geklatscht. Noch immer ist nirgend
etwas von Menschen zu hören und zu sehen; ist das Glück besonders gut, so ver¬
steht man, daß der Russe etwas wie „xroKlÄtüjö IsenueKonn" (verdammte
Finnen) murmelt und seinen Wunsch nach „Theegeld" (ein Euphemismus für
das Trinkgeld, das er in Branntwein anzulegen fest entschlossen ist), verlaut-
bart. Endlich zeigt sich ein baarhäuptiger Bursche von 16 Jahren, dessen
flachsblondes Haar deutliche Spuren einer auf dem Heuboden verbrachten
Siesta trägt; schweigend spannt er dieselbe Anzahl Pferde, welche das Ge¬
fährte des Russen zeigte, vor einen zweirädrigen Karren. an dessen Hinteren
Ende er sich einen Schaukelsitz improvisier. Seine großen blauen Augen
sehen den Reisenden so lange an, bis dieser sich in den Wagen gesetzt hat
— dann stößt er einen kurzen Schrei aus, wahrscheinlich um symbolisch anzu¬
deuten, daß die Gabe der Sprache ihm nicht vollständig versagt sei, und fort
geht es in rasender Eile, Berg auf, Berg ab, über das Felsenplateau, zwischen
haushohen Granitblöcken, welche rings über das Land gesäet, hin, an mäch¬
tigen Seen vorüber, durch magere Kiefernwälder, an bodenlosen Sümpfen
vorbei, bis der felsige Weg den Reisenden und den lenkenden Knaben nach
etwa zweistündiger Fahrt wiederum vor ein zinnobergefärbtes Haus fährt.
Die frühere Scene wiederholt sich, nur daß die Hand des Knaben sich nach
dem Postgelde ausstreckt, das hier.postnumerando gezahlt wird; mit Sprech¬
versuchen wird keine Zeit verloren. Der Knabe-Lenker schüttelt das
Haupt, bis die entsprechende Anzahl papierner Marks (ein Mark — 25 Co-
peken — 1 Franc) in seiner Hand ist. Hat er außerdem ein Trinkgeld
erhalten, so zeigt er es seinem Nachfolger mit zufriedener oder unzufriedener
Miene — eine halbe Mark bildet das Ordinarium — und weiter geht die
Reise, bis endlich Wiborg, ein stattlicher Ort von ächt schwedischen Gepräge,
seine Thore aufthut.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/240>, abgerufen am 02.07.2024.