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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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daß die Beziehungen zwischen Mutterland und Colonie hier ungleich leb¬
hafter und wärmer sind, als weiter nach Süden.

Der Deutsche, der dieses merkwürdige Land kennen lernen will, kann auf
zwei verschiedenen Wegen in dasselbe gelangen. Entweder er läßt sich von einem
der eleganten Dampfer, welche die finnländische Hauptstadt Helsingfors wäh¬
rend der Sommermonate mit Petersburg und Reval verbinden, über den
finnischen Meerbusen hinwegführen, um an den elegantesten, der westeuropäi¬
schen Cultur conformsten Punkt des gesammten Landes zu kommen, oder er
wählt den unbequemeren, langsameren aber sehr viel interessanteren Weg.
indem er von Petersburg auf einem Post- oder Fuhrmannswagen an die
nur sieben Meilen von der russischen Hauptstadt belegene finnländische Grenze
fährt, um sich in Rajajocki den Wechselfällen der landesüblichen Postbeförde-
rung auf zweirädrigen Holzkarren anzuvertrauen. Beide Arten der Reise
sind nur im Sommer d. h. vom Mai bis zum September praktikabel; eine
freiwillige Winterreise in diesem Lande, dessen langsam Pulsirendes Leben
vollends erstarrt und in Schlaf zurücksinke, wenn das undurchdringliche Grau
des hyperboräischen Winterhimmels die Sonne für Monate umdunkelt hat,
gehört zu den Dingen, die noch keinem Sterblichen -- wenn ihm nicht etwa
das zweideutige Glück zu Theil geworden, in dieser seltsamen Erdgegend ge¬
boren zu sein -- in den Sinn gekommen sind und die darum nicht in Be¬
tracht kommen.

Finnlands Südküste -- ein Land, das immer noch um einige Grade
nordischer, kälter und unwirthbarer ist, als die Eis umstarrte "Palmyra des
Nordens" -- gilt für den wirthbarsten, bevölkertesten und civilisirtesten Theil
des gesammten Großfürstenthums. Und doch muthet es den Reisenden, der
bei Rajajocki auf finnländische Erde gelangt ist, an, als sei er in ein schweig¬
sames, ödes Zauberland gerathen, das erst zu reden und zu leben begin¬
nen wird, wenn das mystische Wort gesprochen ist, unter dessen Bann
Land und Leute liegen. Von der Gluth der nordischen Mittagssonne, --
die im Sommer einzuholen sucht, was sie während sieben langer Winter¬
monde verabsäumt hatte -- ausgedörrt, gelangt der Reisende an ein zinnober-
farben angestrichenes Häuschen, das in Mitten einiger roh gezimmerter Hütten
liegt und vor dem der russische Fuhrmann peitschenknallend hält. Er ver.
läßt sein Gefährte, tritt ein und gelangt in ein Zimmer, dessen Mitte
von einem Tisch eingenommen ist, auf welchem ein graugebundenes Heft mit
der Aufschrift "Dagbok". ein Tintenfaß und ein halbes Dutzend verrosteter
Stahlfedern liegen; in den Ecken des öden Gemachs stehen schwarze, mager
gepolsterte, hochbeinige Stühle, welche mürrisch dreinsehen und deutlich ver-
rathen, das sie menschlicher Gesellschaft weder gewohnt noch bedürftig sind.
Nirgend Spuren menschlicher Bewohner; der Reisende schlägt das Dagbok


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daß die Beziehungen zwischen Mutterland und Colonie hier ungleich leb¬
hafter und wärmer sind, als weiter nach Süden.

Der Deutsche, der dieses merkwürdige Land kennen lernen will, kann auf
zwei verschiedenen Wegen in dasselbe gelangen. Entweder er läßt sich von einem
der eleganten Dampfer, welche die finnländische Hauptstadt Helsingfors wäh¬
rend der Sommermonate mit Petersburg und Reval verbinden, über den
finnischen Meerbusen hinwegführen, um an den elegantesten, der westeuropäi¬
schen Cultur conformsten Punkt des gesammten Landes zu kommen, oder er
wählt den unbequemeren, langsameren aber sehr viel interessanteren Weg.
indem er von Petersburg auf einem Post- oder Fuhrmannswagen an die
nur sieben Meilen von der russischen Hauptstadt belegene finnländische Grenze
fährt, um sich in Rajajocki den Wechselfällen der landesüblichen Postbeförde-
rung auf zweirädrigen Holzkarren anzuvertrauen. Beide Arten der Reise
sind nur im Sommer d. h. vom Mai bis zum September praktikabel; eine
freiwillige Winterreise in diesem Lande, dessen langsam Pulsirendes Leben
vollends erstarrt und in Schlaf zurücksinke, wenn das undurchdringliche Grau
des hyperboräischen Winterhimmels die Sonne für Monate umdunkelt hat,
gehört zu den Dingen, die noch keinem Sterblichen — wenn ihm nicht etwa
das zweideutige Glück zu Theil geworden, in dieser seltsamen Erdgegend ge¬
boren zu sein — in den Sinn gekommen sind und die darum nicht in Be¬
tracht kommen.

Finnlands Südküste — ein Land, das immer noch um einige Grade
nordischer, kälter und unwirthbarer ist, als die Eis umstarrte „Palmyra des
Nordens" — gilt für den wirthbarsten, bevölkertesten und civilisirtesten Theil
des gesammten Großfürstenthums. Und doch muthet es den Reisenden, der
bei Rajajocki auf finnländische Erde gelangt ist, an, als sei er in ein schweig¬
sames, ödes Zauberland gerathen, das erst zu reden und zu leben begin¬
nen wird, wenn das mystische Wort gesprochen ist, unter dessen Bann
Land und Leute liegen. Von der Gluth der nordischen Mittagssonne, —
die im Sommer einzuholen sucht, was sie während sieben langer Winter¬
monde verabsäumt hatte — ausgedörrt, gelangt der Reisende an ein zinnober-
farben angestrichenes Häuschen, das in Mitten einiger roh gezimmerter Hütten
liegt und vor dem der russische Fuhrmann peitschenknallend hält. Er ver.
läßt sein Gefährte, tritt ein und gelangt in ein Zimmer, dessen Mitte
von einem Tisch eingenommen ist, auf welchem ein graugebundenes Heft mit
der Aufschrift „Dagbok". ein Tintenfaß und ein halbes Dutzend verrosteter
Stahlfedern liegen; in den Ecken des öden Gemachs stehen schwarze, mager
gepolsterte, hochbeinige Stühle, welche mürrisch dreinsehen und deutlich ver-
rathen, das sie menschlicher Gesellschaft weder gewohnt noch bedürftig sind.
Nirgend Spuren menschlicher Bewohner; der Reisende schlägt das Dagbok


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[0239] daß die Beziehungen zwischen Mutterland und Colonie hier ungleich leb¬ hafter und wärmer sind, als weiter nach Süden. Der Deutsche, der dieses merkwürdige Land kennen lernen will, kann auf zwei verschiedenen Wegen in dasselbe gelangen. Entweder er läßt sich von einem der eleganten Dampfer, welche die finnländische Hauptstadt Helsingfors wäh¬ rend der Sommermonate mit Petersburg und Reval verbinden, über den finnischen Meerbusen hinwegführen, um an den elegantesten, der westeuropäi¬ schen Cultur conformsten Punkt des gesammten Landes zu kommen, oder er wählt den unbequemeren, langsameren aber sehr viel interessanteren Weg. indem er von Petersburg auf einem Post- oder Fuhrmannswagen an die nur sieben Meilen von der russischen Hauptstadt belegene finnländische Grenze fährt, um sich in Rajajocki den Wechselfällen der landesüblichen Postbeförde- rung auf zweirädrigen Holzkarren anzuvertrauen. Beide Arten der Reise sind nur im Sommer d. h. vom Mai bis zum September praktikabel; eine freiwillige Winterreise in diesem Lande, dessen langsam Pulsirendes Leben vollends erstarrt und in Schlaf zurücksinke, wenn das undurchdringliche Grau des hyperboräischen Winterhimmels die Sonne für Monate umdunkelt hat, gehört zu den Dingen, die noch keinem Sterblichen — wenn ihm nicht etwa das zweideutige Glück zu Theil geworden, in dieser seltsamen Erdgegend ge¬ boren zu sein — in den Sinn gekommen sind und die darum nicht in Be¬ tracht kommen. Finnlands Südküste — ein Land, das immer noch um einige Grade nordischer, kälter und unwirthbarer ist, als die Eis umstarrte „Palmyra des Nordens" — gilt für den wirthbarsten, bevölkertesten und civilisirtesten Theil des gesammten Großfürstenthums. Und doch muthet es den Reisenden, der bei Rajajocki auf finnländische Erde gelangt ist, an, als sei er in ein schweig¬ sames, ödes Zauberland gerathen, das erst zu reden und zu leben begin¬ nen wird, wenn das mystische Wort gesprochen ist, unter dessen Bann Land und Leute liegen. Von der Gluth der nordischen Mittagssonne, — die im Sommer einzuholen sucht, was sie während sieben langer Winter¬ monde verabsäumt hatte — ausgedörrt, gelangt der Reisende an ein zinnober- farben angestrichenes Häuschen, das in Mitten einiger roh gezimmerter Hütten liegt und vor dem der russische Fuhrmann peitschenknallend hält. Er ver. läßt sein Gefährte, tritt ein und gelangt in ein Zimmer, dessen Mitte von einem Tisch eingenommen ist, auf welchem ein graugebundenes Heft mit der Aufschrift „Dagbok". ein Tintenfaß und ein halbes Dutzend verrosteter Stahlfedern liegen; in den Ecken des öden Gemachs stehen schwarze, mager gepolsterte, hochbeinige Stühle, welche mürrisch dreinsehen und deutlich ver- rathen, das sie menschlicher Gesellschaft weder gewohnt noch bedürftig sind. Nirgend Spuren menschlicher Bewohner; der Reisende schlägt das Dagbok 28"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/239>, abgerufen am 02.07.2024.