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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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weit er sie zu begreifen vermag, selbständig schafft: als ein Ganzes ist es
vom menschlichen Geist gedacht und gebildet, und darum dem menschlichen
Geiste als ein Ganzes faßbar.

Faßt man dies ins Auge, so sieht man, wie oberflächlich .die oft gel¬
tend gemachte Vorstellung ist, als käme die idealische Schönheit des Kunst-
Werks dadurch zu Stande, daß der Künstler die einzelnen Züge unge¬
wöhnlicher Schönheit, welche er in der Wirklichkeit beobachtet, zu einem
Ganzen vereinige. Auch im Alterthum wird neben der schönen, tiefdrin¬
genden Auffassung Platos, daß der menschliche Geist von der begeisterten
Anschauung der einzelnen schönen Erscheinungen allmählich und stufenweis
zur Anschauung des Schönen und endlich zur Idee der göttlichen Schönheit,
aus welcher die Schöpfungen der Natur wie der Kunst gleichmäßig abzuleiten
sind, gelange, häufig die scheinbar auf Erfahrung beruhende Ansicht aus¬
gesprochen, daß ein Kunstwerk aus den schönen Einzelnheiten der Modelle zu¬
sammengesetzt sei. Ein schlagender Beleg ist die bekannte Anecdote von
Zeuxis. Als ihm in Kroton oder sonst wo ein Gemälde der Juno
oder Helena oder sonst einer Schönheit aufgetragen wurde, da haben ihm
die Väter der Stadt eine Anzahl der schönsten Jungfrauen aus edlen Ge¬
schlechtern nach freier Auswahl als Modelle zur Verfügung gestellt, daraus
sei die wunderbare Schönheit des Gemäldes zu erklären. Dergleichen wurde
auch im Alterthum von Fremdenführern erzählt, vom Publikum geglaubt,
und von den Aesthetikern exemplificirt. Am begreiflichsten ist es. wenn
Künstler sich diese Art des Producirens als möglich denken. Denn sie fassen
jeden einzelnen Zug mit scharfem und geübtem Auge auf und empfinden ihn
als einen lebendig anregenden, und während sie sich der Nothwendigkeit eines
unausgesetzten Naturstudiums wohl bewußt sind, übersehen sie am ehesten,
daß sie dadurch nur der in ihnen schaffenden Kraft Nahrung zuführen, über
deren Natur und Wirksamkeit sie um so weniger zu reflectiren Pflegen, je
unwiderstehlicher der Trieb derselben in ihnen ist. Wollte ein Künstler ein¬
mal im Ernst versuchen aus einzelnen der Natur hie und da entlehn¬
ten Zügen künstlerisch ein Ganzes zusammenzufügen, man würde entsetzen über
die Mißgestalt; er würde es aber gar nicht zu Stande bringen. Auch in
der bildenden Kunst hat der berühmte Ausspruch Goethes vom Werther volle
Wahrheit, es sei kein Zug darin, der nicht erlebt sei, aber keiner erscheine
im Kunstwerk so, wie er ihn erlebt habe. Der bildende Künstler lebt in
und mit der Natur, aber was er auch dort erlebt, muß er in seinem In¬
nern von Neuem durchleben, um es im Kunstwerk wieder erstehen zu lassen.

Von welcher Seite man auch das Jdealische fassen, und wie man das
Wesen desselben näher bestimmen wolle, darüber wird kein Zweifel sein,
haß im stritten Gegensatz zum Ideal die Mode stehe. Ohne dies proteus-


weit er sie zu begreifen vermag, selbständig schafft: als ein Ganzes ist es
vom menschlichen Geist gedacht und gebildet, und darum dem menschlichen
Geiste als ein Ganzes faßbar.

Faßt man dies ins Auge, so sieht man, wie oberflächlich .die oft gel¬
tend gemachte Vorstellung ist, als käme die idealische Schönheit des Kunst-
Werks dadurch zu Stande, daß der Künstler die einzelnen Züge unge¬
wöhnlicher Schönheit, welche er in der Wirklichkeit beobachtet, zu einem
Ganzen vereinige. Auch im Alterthum wird neben der schönen, tiefdrin¬
genden Auffassung Platos, daß der menschliche Geist von der begeisterten
Anschauung der einzelnen schönen Erscheinungen allmählich und stufenweis
zur Anschauung des Schönen und endlich zur Idee der göttlichen Schönheit,
aus welcher die Schöpfungen der Natur wie der Kunst gleichmäßig abzuleiten
sind, gelange, häufig die scheinbar auf Erfahrung beruhende Ansicht aus¬
gesprochen, daß ein Kunstwerk aus den schönen Einzelnheiten der Modelle zu¬
sammengesetzt sei. Ein schlagender Beleg ist die bekannte Anecdote von
Zeuxis. Als ihm in Kroton oder sonst wo ein Gemälde der Juno
oder Helena oder sonst einer Schönheit aufgetragen wurde, da haben ihm
die Väter der Stadt eine Anzahl der schönsten Jungfrauen aus edlen Ge¬
schlechtern nach freier Auswahl als Modelle zur Verfügung gestellt, daraus
sei die wunderbare Schönheit des Gemäldes zu erklären. Dergleichen wurde
auch im Alterthum von Fremdenführern erzählt, vom Publikum geglaubt,
und von den Aesthetikern exemplificirt. Am begreiflichsten ist es. wenn
Künstler sich diese Art des Producirens als möglich denken. Denn sie fassen
jeden einzelnen Zug mit scharfem und geübtem Auge auf und empfinden ihn
als einen lebendig anregenden, und während sie sich der Nothwendigkeit eines
unausgesetzten Naturstudiums wohl bewußt sind, übersehen sie am ehesten,
daß sie dadurch nur der in ihnen schaffenden Kraft Nahrung zuführen, über
deren Natur und Wirksamkeit sie um so weniger zu reflectiren Pflegen, je
unwiderstehlicher der Trieb derselben in ihnen ist. Wollte ein Künstler ein¬
mal im Ernst versuchen aus einzelnen der Natur hie und da entlehn¬
ten Zügen künstlerisch ein Ganzes zusammenzufügen, man würde entsetzen über
die Mißgestalt; er würde es aber gar nicht zu Stande bringen. Auch in
der bildenden Kunst hat der berühmte Ausspruch Goethes vom Werther volle
Wahrheit, es sei kein Zug darin, der nicht erlebt sei, aber keiner erscheine
im Kunstwerk so, wie er ihn erlebt habe. Der bildende Künstler lebt in
und mit der Natur, aber was er auch dort erlebt, muß er in seinem In¬
nern von Neuem durchleben, um es im Kunstwerk wieder erstehen zu lassen.

Von welcher Seite man auch das Jdealische fassen, und wie man das
Wesen desselben näher bestimmen wolle, darüber wird kein Zweifel sein,
haß im stritten Gegensatz zum Ideal die Mode stehe. Ohne dies proteus-


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[0182] weit er sie zu begreifen vermag, selbständig schafft: als ein Ganzes ist es vom menschlichen Geist gedacht und gebildet, und darum dem menschlichen Geiste als ein Ganzes faßbar. Faßt man dies ins Auge, so sieht man, wie oberflächlich .die oft gel¬ tend gemachte Vorstellung ist, als käme die idealische Schönheit des Kunst- Werks dadurch zu Stande, daß der Künstler die einzelnen Züge unge¬ wöhnlicher Schönheit, welche er in der Wirklichkeit beobachtet, zu einem Ganzen vereinige. Auch im Alterthum wird neben der schönen, tiefdrin¬ genden Auffassung Platos, daß der menschliche Geist von der begeisterten Anschauung der einzelnen schönen Erscheinungen allmählich und stufenweis zur Anschauung des Schönen und endlich zur Idee der göttlichen Schönheit, aus welcher die Schöpfungen der Natur wie der Kunst gleichmäßig abzuleiten sind, gelange, häufig die scheinbar auf Erfahrung beruhende Ansicht aus¬ gesprochen, daß ein Kunstwerk aus den schönen Einzelnheiten der Modelle zu¬ sammengesetzt sei. Ein schlagender Beleg ist die bekannte Anecdote von Zeuxis. Als ihm in Kroton oder sonst wo ein Gemälde der Juno oder Helena oder sonst einer Schönheit aufgetragen wurde, da haben ihm die Väter der Stadt eine Anzahl der schönsten Jungfrauen aus edlen Ge¬ schlechtern nach freier Auswahl als Modelle zur Verfügung gestellt, daraus sei die wunderbare Schönheit des Gemäldes zu erklären. Dergleichen wurde auch im Alterthum von Fremdenführern erzählt, vom Publikum geglaubt, und von den Aesthetikern exemplificirt. Am begreiflichsten ist es. wenn Künstler sich diese Art des Producirens als möglich denken. Denn sie fassen jeden einzelnen Zug mit scharfem und geübtem Auge auf und empfinden ihn als einen lebendig anregenden, und während sie sich der Nothwendigkeit eines unausgesetzten Naturstudiums wohl bewußt sind, übersehen sie am ehesten, daß sie dadurch nur der in ihnen schaffenden Kraft Nahrung zuführen, über deren Natur und Wirksamkeit sie um so weniger zu reflectiren Pflegen, je unwiderstehlicher der Trieb derselben in ihnen ist. Wollte ein Künstler ein¬ mal im Ernst versuchen aus einzelnen der Natur hie und da entlehn¬ ten Zügen künstlerisch ein Ganzes zusammenzufügen, man würde entsetzen über die Mißgestalt; er würde es aber gar nicht zu Stande bringen. Auch in der bildenden Kunst hat der berühmte Ausspruch Goethes vom Werther volle Wahrheit, es sei kein Zug darin, der nicht erlebt sei, aber keiner erscheine im Kunstwerk so, wie er ihn erlebt habe. Der bildende Künstler lebt in und mit der Natur, aber was er auch dort erlebt, muß er in seinem In¬ nern von Neuem durchleben, um es im Kunstwerk wieder erstehen zu lassen. Von welcher Seite man auch das Jdealische fassen, und wie man das Wesen desselben näher bestimmen wolle, darüber wird kein Zweifel sein, haß im stritten Gegensatz zum Ideal die Mode stehe. Ohne dies proteus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/182>, abgerufen am 02.07.2024.