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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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er nachschafft, an die Gesetze des Stoffes, in welchem er schaffend bildet.
Diese Gesetze aber, so mannigfaltig und verschiedenartig die Erscheinungen
sind, in welchen sie sich offenbaren, sind ihrem Wesen nach dieselben, und
das Schaffen des Künstlers beruht darauf, daß er sie als identische gemein¬
sam in Wirksamkeit setze. Wenn eins derselben verletzt wird oder einseitig
vorwiegt, entsteht eine Störung im Prozeß des künstlerischen Schaffens, welche
ein vollendetes Kunstwerk nicht zu Stande kommen läßt. Ist der Künstler
des Stoffes nicht vollkommen Herr oder läßt er sich durch die Eigenartigkeit
desselben bestimmen, so wird die Ungeschicklichkeit oder.das Raffinement der
Technik den reinen Eindruck des Kunstwerks trüben. Ist der Künstler nur
fähig die von der Natur dargebotenen Formen äußerlich und im Einzelnen
nachzuahmen, ohne daß es ihm gelingt das Bildungsgesetz der Natur in sich
aufzunehmen, wird er einem gröberen oder feineren Naturalismus verfallen;
traut er der Kraft des eigenen Geistes zu sehr, daß er der Natur nachzu¬
gehen verschmäht oder ihr Gewalt anzuthun sich vermißt, werden seine
Werke statt lebendiger Wahrheit den Stempel der Manier tragen. Nur einem
künstlerischen Vermögen, welches durch Begabung und Bildung die in den
einzelnen Factoren des künstlerischen Schaffens wirksamen Gesetze in ihrer
Wurzel in sich aufgenommen hat und organisch bilden läßt, kann es gelingen
in seinen Werken die Harmonie aller zusammenwirkenden Kräfte zur An¬
schauung zu bringen, in welcher die wahre Idealität beruht. Wer in solchen
Kunstwerken eine Schönheit, ein Ebenmaß, einen Ausdruck von solcher Rein-
heit und Kraft bewundert, wie sie uns so in keiner Erscheinung der wirk¬
lichen Natur begegnet, und nun das Kunstwerk über die Natur stellt, der
übersieht, daß das Kunstwerk als eine Schöpfung menschlichen Geistes und
menschlicher Kraft, der er der Anschauung wie dem Verstehen nach sich ver¬
wandt und ebenbürtig weiß, ihn so vollständig erfüllt und befriedigt. Wenn
auch der menschliche Geist die in der Natur waltenden Gesetze und Kräfte
aufzuspüren und in ihren Wirkungen zu verfolgen unablässig bemüht ist. so
erkennt er dieselben doch nur Hin Einzelnen, nirgend tritt ihm in der Welt
der Erscheinungen eine vollkommene Verkörperung dieser Gesetze hervor; nicht
die Natur, nicht die Geschichte des Menschengeschlechts, nicht die einzelne Er-
scheinung vermag er als ein Ganzes zu verstehen, der Zusammenhang, der
alles mit einer unzerreißbaren Kette vereinigt, ist ein durch höhere Kraft ge¬
gegebener, was aus ihm herausgelöst wird, bleibt ein Bruchstück. Das Kunst-
werk aber vom menschlichen Geist in seinem Keim empfangen, durch mensch¬
liche Kraft ausgebildet, ist zwar in allen Momenten seines Entstehens von
den in der Natur waltenden Gesetzen abhängig, aber auch sie sind in ihrer
Anwendung durch den menschlichen Geist hindurch gegangen: das vollendete
Kunstwerk zeigt, wie der Mensch nach den Gesetzen der Weltschöpfung, so-


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er nachschafft, an die Gesetze des Stoffes, in welchem er schaffend bildet.
Diese Gesetze aber, so mannigfaltig und verschiedenartig die Erscheinungen
sind, in welchen sie sich offenbaren, sind ihrem Wesen nach dieselben, und
das Schaffen des Künstlers beruht darauf, daß er sie als identische gemein¬
sam in Wirksamkeit setze. Wenn eins derselben verletzt wird oder einseitig
vorwiegt, entsteht eine Störung im Prozeß des künstlerischen Schaffens, welche
ein vollendetes Kunstwerk nicht zu Stande kommen läßt. Ist der Künstler
des Stoffes nicht vollkommen Herr oder läßt er sich durch die Eigenartigkeit
desselben bestimmen, so wird die Ungeschicklichkeit oder.das Raffinement der
Technik den reinen Eindruck des Kunstwerks trüben. Ist der Künstler nur
fähig die von der Natur dargebotenen Formen äußerlich und im Einzelnen
nachzuahmen, ohne daß es ihm gelingt das Bildungsgesetz der Natur in sich
aufzunehmen, wird er einem gröberen oder feineren Naturalismus verfallen;
traut er der Kraft des eigenen Geistes zu sehr, daß er der Natur nachzu¬
gehen verschmäht oder ihr Gewalt anzuthun sich vermißt, werden seine
Werke statt lebendiger Wahrheit den Stempel der Manier tragen. Nur einem
künstlerischen Vermögen, welches durch Begabung und Bildung die in den
einzelnen Factoren des künstlerischen Schaffens wirksamen Gesetze in ihrer
Wurzel in sich aufgenommen hat und organisch bilden läßt, kann es gelingen
in seinen Werken die Harmonie aller zusammenwirkenden Kräfte zur An¬
schauung zu bringen, in welcher die wahre Idealität beruht. Wer in solchen
Kunstwerken eine Schönheit, ein Ebenmaß, einen Ausdruck von solcher Rein-
heit und Kraft bewundert, wie sie uns so in keiner Erscheinung der wirk¬
lichen Natur begegnet, und nun das Kunstwerk über die Natur stellt, der
übersieht, daß das Kunstwerk als eine Schöpfung menschlichen Geistes und
menschlicher Kraft, der er der Anschauung wie dem Verstehen nach sich ver¬
wandt und ebenbürtig weiß, ihn so vollständig erfüllt und befriedigt. Wenn
auch der menschliche Geist die in der Natur waltenden Gesetze und Kräfte
aufzuspüren und in ihren Wirkungen zu verfolgen unablässig bemüht ist. so
erkennt er dieselben doch nur Hin Einzelnen, nirgend tritt ihm in der Welt
der Erscheinungen eine vollkommene Verkörperung dieser Gesetze hervor; nicht
die Natur, nicht die Geschichte des Menschengeschlechts, nicht die einzelne Er-
scheinung vermag er als ein Ganzes zu verstehen, der Zusammenhang, der
alles mit einer unzerreißbaren Kette vereinigt, ist ein durch höhere Kraft ge¬
gegebener, was aus ihm herausgelöst wird, bleibt ein Bruchstück. Das Kunst-
werk aber vom menschlichen Geist in seinem Keim empfangen, durch mensch¬
liche Kraft ausgebildet, ist zwar in allen Momenten seines Entstehens von
den in der Natur waltenden Gesetzen abhängig, aber auch sie sind in ihrer
Anwendung durch den menschlichen Geist hindurch gegangen: das vollendete
Kunstwerk zeigt, wie der Mensch nach den Gesetzen der Weltschöpfung, so-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/181>, abgerufen am 02.07.2024.