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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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und Gesetzen zu verschiedenen Zeiten" je nach ihren Hilfsmitteln und Metho¬
den verschieden auffaßt und darstellt, so verschieden, daß eine vorgeschrittene
Zeit schwer begreift, wie man das klar Vorliegende so anders habe ansehen,
mit einander in einen so anderen Zusammenhang habe bringen können, so
steht auch die Kunst der Natur ähnlich gegenüber. Nicht allein durch die
äußere Fertigkeit, sondern durch die innere, geistige wie gemüthliche Bil¬
dung, welche den Künstler unauflöslich mit seiner Zeit und seinem Volk ver¬
einigt, wird die Auffassung und Wiedergabe der Form bedingt: die künst¬
lerische Anschauung steht unter dem Einfluß der gesammten geistigen Atmo¬
sphäre. Wenn man Reihen von Porträts aus verschiedener Zeit von ver¬
schiedenen Künstlern neben einander betrachtet, wird man von der Ueber¬
einstimmung getroffen werden, welche zwischen den Porträts einer Periode,
ganz abgesehen von den Aeußerlichkeiten in Tracht, Haar und Bart und
dergleichen, in Form und Ausdruck auffallend hervortritt. Bei den lebenden
Zeitgenossen tritt nicht sowohl ein solcher typischer Gemeincharakter als viel¬
mehr das individuell Bedeutende hervor. Schwerlich ist die Natur in frühe¬
ren Zeiten im Schaffen einförmiger gewesen; daß diese Porträts Menschen¬
werk sind, daß die nachbildenden Künstler unter dem Einfluß ihrer Zeit
standen, hat den Bildern eine Uebereinstimmung gegeben, welche die Natur
den Menschen so nicht aufprägt. Vielleicht noch deutlicher tritt dies Ver¬
hältniß hervor, wenn man die Abbildungen antiker Kunstwerke aus verschie¬
denen Zeiten mit einander vergleicht. Hier ist das Object dasselbe, und doch
wie verschieden sind die Nachbildungen. Nicht allein durch die Individua¬
lität des einzelnen Künstlers: die Verwandtschaft der Nachbildungen verschie¬
dener Perioden sind unverkennbar und die Befriedigung, welche die Zeit¬
genossen übereinstimmend über Nachbildungen aussprachen, in denen die
nächste Generation keine Spur von Geist und Form der Antike findet, be¬
weist, daß jede Zeit die antike Kunst nicht minder wie die Natur mit
ihren Augen auffaßt und demgemäß wiedergibt. Dies eigenthümliche Ver¬
hältniß gibt ein wichtiges Kriterium bei Fälschungen ab. Auch der geschick¬
teste Fälscher faßt die Kunstwerke, denen er nachfälscht, unter dem Einfluß
seiner Zeit auf und trägt davon etwas in seine Arbeit über, welches eine
weniger oder anders befangene Zeit ohne weiteres als fremdartig erkennt.

Der Einfluß der Zeitströmung, unter welchem der Künstler, auch des
Alterthums, steht, bringt, wiewohl er verallgemeinernd einwirkt, darum nicht
den Charakter des Jdealischen hervor. Die Quelle desselben ist tiefer, im
innersten Wesen der Kunst, als einer schaffenden zu suchen. Aus dem Nichts'
ganz bedingungslos frei zu schaffen ist dem Menschen nicht beschieden. Der
schaffende Künstler ist gebunden an die Gesetze der menschlichen Natur, ver¬
möge welcher er schafft, an die Gesetze der ihn umgebenden Natur, welcher


und Gesetzen zu verschiedenen Zeiten" je nach ihren Hilfsmitteln und Metho¬
den verschieden auffaßt und darstellt, so verschieden, daß eine vorgeschrittene
Zeit schwer begreift, wie man das klar Vorliegende so anders habe ansehen,
mit einander in einen so anderen Zusammenhang habe bringen können, so
steht auch die Kunst der Natur ähnlich gegenüber. Nicht allein durch die
äußere Fertigkeit, sondern durch die innere, geistige wie gemüthliche Bil¬
dung, welche den Künstler unauflöslich mit seiner Zeit und seinem Volk ver¬
einigt, wird die Auffassung und Wiedergabe der Form bedingt: die künst¬
lerische Anschauung steht unter dem Einfluß der gesammten geistigen Atmo¬
sphäre. Wenn man Reihen von Porträts aus verschiedener Zeit von ver¬
schiedenen Künstlern neben einander betrachtet, wird man von der Ueber¬
einstimmung getroffen werden, welche zwischen den Porträts einer Periode,
ganz abgesehen von den Aeußerlichkeiten in Tracht, Haar und Bart und
dergleichen, in Form und Ausdruck auffallend hervortritt. Bei den lebenden
Zeitgenossen tritt nicht sowohl ein solcher typischer Gemeincharakter als viel¬
mehr das individuell Bedeutende hervor. Schwerlich ist die Natur in frühe¬
ren Zeiten im Schaffen einförmiger gewesen; daß diese Porträts Menschen¬
werk sind, daß die nachbildenden Künstler unter dem Einfluß ihrer Zeit
standen, hat den Bildern eine Uebereinstimmung gegeben, welche die Natur
den Menschen so nicht aufprägt. Vielleicht noch deutlicher tritt dies Ver¬
hältniß hervor, wenn man die Abbildungen antiker Kunstwerke aus verschie¬
denen Zeiten mit einander vergleicht. Hier ist das Object dasselbe, und doch
wie verschieden sind die Nachbildungen. Nicht allein durch die Individua¬
lität des einzelnen Künstlers: die Verwandtschaft der Nachbildungen verschie¬
dener Perioden sind unverkennbar und die Befriedigung, welche die Zeit¬
genossen übereinstimmend über Nachbildungen aussprachen, in denen die
nächste Generation keine Spur von Geist und Form der Antike findet, be¬
weist, daß jede Zeit die antike Kunst nicht minder wie die Natur mit
ihren Augen auffaßt und demgemäß wiedergibt. Dies eigenthümliche Ver¬
hältniß gibt ein wichtiges Kriterium bei Fälschungen ab. Auch der geschick¬
teste Fälscher faßt die Kunstwerke, denen er nachfälscht, unter dem Einfluß
seiner Zeit auf und trägt davon etwas in seine Arbeit über, welches eine
weniger oder anders befangene Zeit ohne weiteres als fremdartig erkennt.

Der Einfluß der Zeitströmung, unter welchem der Künstler, auch des
Alterthums, steht, bringt, wiewohl er verallgemeinernd einwirkt, darum nicht
den Charakter des Jdealischen hervor. Die Quelle desselben ist tiefer, im
innersten Wesen der Kunst, als einer schaffenden zu suchen. Aus dem Nichts'
ganz bedingungslos frei zu schaffen ist dem Menschen nicht beschieden. Der
schaffende Künstler ist gebunden an die Gesetze der menschlichen Natur, ver¬
möge welcher er schafft, an die Gesetze der ihn umgebenden Natur, welcher


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[0180] und Gesetzen zu verschiedenen Zeiten" je nach ihren Hilfsmitteln und Metho¬ den verschieden auffaßt und darstellt, so verschieden, daß eine vorgeschrittene Zeit schwer begreift, wie man das klar Vorliegende so anders habe ansehen, mit einander in einen so anderen Zusammenhang habe bringen können, so steht auch die Kunst der Natur ähnlich gegenüber. Nicht allein durch die äußere Fertigkeit, sondern durch die innere, geistige wie gemüthliche Bil¬ dung, welche den Künstler unauflöslich mit seiner Zeit und seinem Volk ver¬ einigt, wird die Auffassung und Wiedergabe der Form bedingt: die künst¬ lerische Anschauung steht unter dem Einfluß der gesammten geistigen Atmo¬ sphäre. Wenn man Reihen von Porträts aus verschiedener Zeit von ver¬ schiedenen Künstlern neben einander betrachtet, wird man von der Ueber¬ einstimmung getroffen werden, welche zwischen den Porträts einer Periode, ganz abgesehen von den Aeußerlichkeiten in Tracht, Haar und Bart und dergleichen, in Form und Ausdruck auffallend hervortritt. Bei den lebenden Zeitgenossen tritt nicht sowohl ein solcher typischer Gemeincharakter als viel¬ mehr das individuell Bedeutende hervor. Schwerlich ist die Natur in frühe¬ ren Zeiten im Schaffen einförmiger gewesen; daß diese Porträts Menschen¬ werk sind, daß die nachbildenden Künstler unter dem Einfluß ihrer Zeit standen, hat den Bildern eine Uebereinstimmung gegeben, welche die Natur den Menschen so nicht aufprägt. Vielleicht noch deutlicher tritt dies Ver¬ hältniß hervor, wenn man die Abbildungen antiker Kunstwerke aus verschie¬ denen Zeiten mit einander vergleicht. Hier ist das Object dasselbe, und doch wie verschieden sind die Nachbildungen. Nicht allein durch die Individua¬ lität des einzelnen Künstlers: die Verwandtschaft der Nachbildungen verschie¬ dener Perioden sind unverkennbar und die Befriedigung, welche die Zeit¬ genossen übereinstimmend über Nachbildungen aussprachen, in denen die nächste Generation keine Spur von Geist und Form der Antike findet, be¬ weist, daß jede Zeit die antike Kunst nicht minder wie die Natur mit ihren Augen auffaßt und demgemäß wiedergibt. Dies eigenthümliche Ver¬ hältniß gibt ein wichtiges Kriterium bei Fälschungen ab. Auch der geschick¬ teste Fälscher faßt die Kunstwerke, denen er nachfälscht, unter dem Einfluß seiner Zeit auf und trägt davon etwas in seine Arbeit über, welches eine weniger oder anders befangene Zeit ohne weiteres als fremdartig erkennt. Der Einfluß der Zeitströmung, unter welchem der Künstler, auch des Alterthums, steht, bringt, wiewohl er verallgemeinernd einwirkt, darum nicht den Charakter des Jdealischen hervor. Die Quelle desselben ist tiefer, im innersten Wesen der Kunst, als einer schaffenden zu suchen. Aus dem Nichts' ganz bedingungslos frei zu schaffen ist dem Menschen nicht beschieden. Der schaffende Künstler ist gebunden an die Gesetze der menschlichen Natur, ver¬ möge welcher er schafft, an die Gesetze der ihn umgebenden Natur, welcher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/180>, abgerufen am 02.07.2024.