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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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Die alte Kunst und die Mode.

Als ein wesentlicher Charakterzug der antiken Kunst wird die Idea¬
lität allgemein anerkannt. Wie verschieden auch der Begriff des Ideali¬
schen gefaßt worden ist, immer blieb der Satz stehen, daß die alte Kunst
ideal sei, und unverkennbar hat die Vorstellung, welche man sich vom Wesen
der antiken Kunst bildete, fortwährend auf die Auffassung des Jdealischen be¬
stimmenden Einfluß geübt. Wenn man das Ideal, wie vielfach geschieht,
in einen Gegensatz zur Natur gebracht hat, als etwas, das über die Natur hin¬
ausgehe, sie übertreffe, so geräth man in Conflict mit der nicht minder fest¬
stehenden Beobachtung, daß das Naturgemäße ein Grundzug des Alter¬
thums sei, daß es in seinen Anschauungen, in seinem Leben und in seinem
Schaffen fest in der Natur wurzele, der Natur folge und die Natur wieder,
gebe. In der alten Kunst können also auch Natur und Ideal nicht im
Widerstreit sein, sie müssen nicht allein mit und neben einander bestehen,
sondern einander nothwendig bedingen, beide müssen der Ausdruck eines und
desselben Gesetzes sein. Wir finden die bildende Kunst der Griechen auf
ihrem Entwickelungsgange, immer auf den Spuren der Natur; je nach der
Bildungsstufe ist sie mit ihren verschiedenen Kräften und Mitteln immer
redlich bemüht, die Natur getreu wieder zu geben. Auch fehlt es zu keiner Zeit
an Erscheinungen, in denen dieses Bestreben an einzelnen Künstlern oder in
Richtungen der Kunstübung als einseitiger, bis zur Fehlerhaftigkeit einseitiger
Naturalismus erscheint. Aber sind dies einzelne Erscheinungen, durch ihre
Einseitigkeit wohl geeignet den bestimmenden Trieb schärfer zu markiren, nicht
aber dazu angethan, über den idealen Grundcharakter der Kunstentwickelung
Zweifel zu erregen, so kann gegen das lebendige und unbefangene Natur¬
gefühl einer Nation noch keineswegs die Wahrnehmung geltend gemacht
werden, daß die bildende Kunst zu verschiedenen Zeiten die Gegenstände,
welche die Natur unverändert in derselben Weise darbietet, der Gesammt¬
auffassung nach oder in Einzelnheiten verschieden und, wie es zu anderen Zeiten
erscheint, nicht getreu wieder giebt. Darin darf man nicht schlechthin Willkür
und Manier finden. Wie die Wissenschaft die Natur in ihren Phänomenen


Grenzboten III. 1868. 21
Die alte Kunst und die Mode.

Als ein wesentlicher Charakterzug der antiken Kunst wird die Idea¬
lität allgemein anerkannt. Wie verschieden auch der Begriff des Ideali¬
schen gefaßt worden ist, immer blieb der Satz stehen, daß die alte Kunst
ideal sei, und unverkennbar hat die Vorstellung, welche man sich vom Wesen
der antiken Kunst bildete, fortwährend auf die Auffassung des Jdealischen be¬
stimmenden Einfluß geübt. Wenn man das Ideal, wie vielfach geschieht,
in einen Gegensatz zur Natur gebracht hat, als etwas, das über die Natur hin¬
ausgehe, sie übertreffe, so geräth man in Conflict mit der nicht minder fest¬
stehenden Beobachtung, daß das Naturgemäße ein Grundzug des Alter¬
thums sei, daß es in seinen Anschauungen, in seinem Leben und in seinem
Schaffen fest in der Natur wurzele, der Natur folge und die Natur wieder,
gebe. In der alten Kunst können also auch Natur und Ideal nicht im
Widerstreit sein, sie müssen nicht allein mit und neben einander bestehen,
sondern einander nothwendig bedingen, beide müssen der Ausdruck eines und
desselben Gesetzes sein. Wir finden die bildende Kunst der Griechen auf
ihrem Entwickelungsgange, immer auf den Spuren der Natur; je nach der
Bildungsstufe ist sie mit ihren verschiedenen Kräften und Mitteln immer
redlich bemüht, die Natur getreu wieder zu geben. Auch fehlt es zu keiner Zeit
an Erscheinungen, in denen dieses Bestreben an einzelnen Künstlern oder in
Richtungen der Kunstübung als einseitiger, bis zur Fehlerhaftigkeit einseitiger
Naturalismus erscheint. Aber sind dies einzelne Erscheinungen, durch ihre
Einseitigkeit wohl geeignet den bestimmenden Trieb schärfer zu markiren, nicht
aber dazu angethan, über den idealen Grundcharakter der Kunstentwickelung
Zweifel zu erregen, so kann gegen das lebendige und unbefangene Natur¬
gefühl einer Nation noch keineswegs die Wahrnehmung geltend gemacht
werden, daß die bildende Kunst zu verschiedenen Zeiten die Gegenstände,
welche die Natur unverändert in derselben Weise darbietet, der Gesammt¬
auffassung nach oder in Einzelnheiten verschieden und, wie es zu anderen Zeiten
erscheint, nicht getreu wieder giebt. Darin darf man nicht schlechthin Willkür
und Manier finden. Wie die Wissenschaft die Natur in ihren Phänomenen


Grenzboten III. 1868. 21
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[0179] Die alte Kunst und die Mode. Als ein wesentlicher Charakterzug der antiken Kunst wird die Idea¬ lität allgemein anerkannt. Wie verschieden auch der Begriff des Ideali¬ schen gefaßt worden ist, immer blieb der Satz stehen, daß die alte Kunst ideal sei, und unverkennbar hat die Vorstellung, welche man sich vom Wesen der antiken Kunst bildete, fortwährend auf die Auffassung des Jdealischen be¬ stimmenden Einfluß geübt. Wenn man das Ideal, wie vielfach geschieht, in einen Gegensatz zur Natur gebracht hat, als etwas, das über die Natur hin¬ ausgehe, sie übertreffe, so geräth man in Conflict mit der nicht minder fest¬ stehenden Beobachtung, daß das Naturgemäße ein Grundzug des Alter¬ thums sei, daß es in seinen Anschauungen, in seinem Leben und in seinem Schaffen fest in der Natur wurzele, der Natur folge und die Natur wieder, gebe. In der alten Kunst können also auch Natur und Ideal nicht im Widerstreit sein, sie müssen nicht allein mit und neben einander bestehen, sondern einander nothwendig bedingen, beide müssen der Ausdruck eines und desselben Gesetzes sein. Wir finden die bildende Kunst der Griechen auf ihrem Entwickelungsgange, immer auf den Spuren der Natur; je nach der Bildungsstufe ist sie mit ihren verschiedenen Kräften und Mitteln immer redlich bemüht, die Natur getreu wieder zu geben. Auch fehlt es zu keiner Zeit an Erscheinungen, in denen dieses Bestreben an einzelnen Künstlern oder in Richtungen der Kunstübung als einseitiger, bis zur Fehlerhaftigkeit einseitiger Naturalismus erscheint. Aber sind dies einzelne Erscheinungen, durch ihre Einseitigkeit wohl geeignet den bestimmenden Trieb schärfer zu markiren, nicht aber dazu angethan, über den idealen Grundcharakter der Kunstentwickelung Zweifel zu erregen, so kann gegen das lebendige und unbefangene Natur¬ gefühl einer Nation noch keineswegs die Wahrnehmung geltend gemacht werden, daß die bildende Kunst zu verschiedenen Zeiten die Gegenstände, welche die Natur unverändert in derselben Weise darbietet, der Gesammt¬ auffassung nach oder in Einzelnheiten verschieden und, wie es zu anderen Zeiten erscheint, nicht getreu wieder giebt. Darin darf man nicht schlechthin Willkür und Manier finden. Wie die Wissenschaft die Natur in ihren Phänomenen Grenzboten III. 1868. 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/179>, abgerufen am 02.07.2024.