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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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Ein bestimmter gesetzlicher Maßstab für die Leistungspflicht der Gemein¬
den ist dem freien Ermessen der Verwaltungsbehörden bei weitem vor¬
zuziehen.

Gegenwärtig kommt es vor, daß Gemeinden über ihre Kräfte zur
Armenpflege herangezogen werden und wohl noch öfter tritt der Fall ein,
daß Gemeinden, weil sie glauben, Nichts mehr für die Armenpflege thun
zu können und weil sie doch den Nachweis ihres Unvermögens gegenüber
dem Landarmenverbande nicht zu führen wissen, den Armen Unterstützungen,
welche diese mit Recht würden verlangen können, verweigern, sodaß der
Mangel einer festen Bestimmung der Leistungspflicht der Gemeinden häufig
die erheblichsten Nachtheile herbeiführt.

Der Nothstand in den Kreisen Rybnik und Pleß in Oberschlesien im
Jahre 1847, welcher den furchtbaren Hungertyphus zur Folge hatte, ist
hauptsächlich dadurch so schlimm geworden, daß die Ortsbehörden und Guts¬
besitzer Nichts mehr zur Unterstützung der Nothleidenden thaten, weil sie
ihre Mittel für erschöpft erachteten, während der Landarmenverband und der
Staat die Mittel der Gutsbezirke und Gemeinden für ausreichend hielten
und daher noch nicht zu Hilfsleistungen verpflichtet zu sein glaubten.

3) Der Bezirk der Landarmenverbände sollte überall mit dem der einzelnen
Provinzen zusammenfallen.

Es herrscht jetzt überhaupt die Absicht, durch Decentralisation der Ver¬
waltung den Provinzen größere Bedeutung wie bisher zu geben. Mit Bil¬
dung besonderer Provinzialfonds ist in Bezug auf die Provinz Hannover der
Anfang gemacht worden. Dieser ganzen Tendenz der Decentralisation entspricht
es, daß man die Provinzen überall zu Landarmenverbänden macht. Auf
keinen Fall darf man aber, wie es in Ostpreußen durch die Verordnung vom
September 1864 geschehen ist, jeden Kreis zu einem besondern Landarmen¬
verbande machen, denn bei einer allgemeinen Anwendung dieses Princips
würden wir für unsern ganzen Staat über vierhundert Landarmenverbände
erhalten, deren Beaufsichtigung durch die Centralbehörden nicht durchzuführen
sein würde und von denen gewiß oft der eine oder der andere außer Stand
wäre, feinen Verpflichtungen gehörig zu genügen.

Sind dagegen die Provinzen selbst Landarmenverbände, so ist die Ober¬
aufsicht der Sentralbehörden des Staats über die einzelnen Landarmenver¬
bände keine sehr schwierige, und der Fall, daß der Staat mit seinen Mitteln
zur Unterstützung der nothleidenden Provinz eintreten müßte, wird gewiß
nur höchst selten vorkommen.

Diese Reformvorschläge lassen das Grundprinzip unserer heutigen Armen¬
gesetzgebung, daß nämlich zunächst die Gemeinde oder der Gutsbezirk und
nur subsidiär der Landarmenverband und der Staat für den nothdürftigen


Ein bestimmter gesetzlicher Maßstab für die Leistungspflicht der Gemein¬
den ist dem freien Ermessen der Verwaltungsbehörden bei weitem vor¬
zuziehen.

Gegenwärtig kommt es vor, daß Gemeinden über ihre Kräfte zur
Armenpflege herangezogen werden und wohl noch öfter tritt der Fall ein,
daß Gemeinden, weil sie glauben, Nichts mehr für die Armenpflege thun
zu können und weil sie doch den Nachweis ihres Unvermögens gegenüber
dem Landarmenverbande nicht zu führen wissen, den Armen Unterstützungen,
welche diese mit Recht würden verlangen können, verweigern, sodaß der
Mangel einer festen Bestimmung der Leistungspflicht der Gemeinden häufig
die erheblichsten Nachtheile herbeiführt.

Der Nothstand in den Kreisen Rybnik und Pleß in Oberschlesien im
Jahre 1847, welcher den furchtbaren Hungertyphus zur Folge hatte, ist
hauptsächlich dadurch so schlimm geworden, daß die Ortsbehörden und Guts¬
besitzer Nichts mehr zur Unterstützung der Nothleidenden thaten, weil sie
ihre Mittel für erschöpft erachteten, während der Landarmenverband und der
Staat die Mittel der Gutsbezirke und Gemeinden für ausreichend hielten
und daher noch nicht zu Hilfsleistungen verpflichtet zu sein glaubten.

3) Der Bezirk der Landarmenverbände sollte überall mit dem der einzelnen
Provinzen zusammenfallen.

Es herrscht jetzt überhaupt die Absicht, durch Decentralisation der Ver¬
waltung den Provinzen größere Bedeutung wie bisher zu geben. Mit Bil¬
dung besonderer Provinzialfonds ist in Bezug auf die Provinz Hannover der
Anfang gemacht worden. Dieser ganzen Tendenz der Decentralisation entspricht
es, daß man die Provinzen überall zu Landarmenverbänden macht. Auf
keinen Fall darf man aber, wie es in Ostpreußen durch die Verordnung vom
September 1864 geschehen ist, jeden Kreis zu einem besondern Landarmen¬
verbande machen, denn bei einer allgemeinen Anwendung dieses Princips
würden wir für unsern ganzen Staat über vierhundert Landarmenverbände
erhalten, deren Beaufsichtigung durch die Centralbehörden nicht durchzuführen
sein würde und von denen gewiß oft der eine oder der andere außer Stand
wäre, feinen Verpflichtungen gehörig zu genügen.

Sind dagegen die Provinzen selbst Landarmenverbände, so ist die Ober¬
aufsicht der Sentralbehörden des Staats über die einzelnen Landarmenver¬
bände keine sehr schwierige, und der Fall, daß der Staat mit seinen Mitteln
zur Unterstützung der nothleidenden Provinz eintreten müßte, wird gewiß
nur höchst selten vorkommen.

Diese Reformvorschläge lassen das Grundprinzip unserer heutigen Armen¬
gesetzgebung, daß nämlich zunächst die Gemeinde oder der Gutsbezirk und
nur subsidiär der Landarmenverband und der Staat für den nothdürftigen


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[0162] Ein bestimmter gesetzlicher Maßstab für die Leistungspflicht der Gemein¬ den ist dem freien Ermessen der Verwaltungsbehörden bei weitem vor¬ zuziehen. Gegenwärtig kommt es vor, daß Gemeinden über ihre Kräfte zur Armenpflege herangezogen werden und wohl noch öfter tritt der Fall ein, daß Gemeinden, weil sie glauben, Nichts mehr für die Armenpflege thun zu können und weil sie doch den Nachweis ihres Unvermögens gegenüber dem Landarmenverbande nicht zu führen wissen, den Armen Unterstützungen, welche diese mit Recht würden verlangen können, verweigern, sodaß der Mangel einer festen Bestimmung der Leistungspflicht der Gemeinden häufig die erheblichsten Nachtheile herbeiführt. Der Nothstand in den Kreisen Rybnik und Pleß in Oberschlesien im Jahre 1847, welcher den furchtbaren Hungertyphus zur Folge hatte, ist hauptsächlich dadurch so schlimm geworden, daß die Ortsbehörden und Guts¬ besitzer Nichts mehr zur Unterstützung der Nothleidenden thaten, weil sie ihre Mittel für erschöpft erachteten, während der Landarmenverband und der Staat die Mittel der Gutsbezirke und Gemeinden für ausreichend hielten und daher noch nicht zu Hilfsleistungen verpflichtet zu sein glaubten. 3) Der Bezirk der Landarmenverbände sollte überall mit dem der einzelnen Provinzen zusammenfallen. Es herrscht jetzt überhaupt die Absicht, durch Decentralisation der Ver¬ waltung den Provinzen größere Bedeutung wie bisher zu geben. Mit Bil¬ dung besonderer Provinzialfonds ist in Bezug auf die Provinz Hannover der Anfang gemacht worden. Dieser ganzen Tendenz der Decentralisation entspricht es, daß man die Provinzen überall zu Landarmenverbänden macht. Auf keinen Fall darf man aber, wie es in Ostpreußen durch die Verordnung vom September 1864 geschehen ist, jeden Kreis zu einem besondern Landarmen¬ verbande machen, denn bei einer allgemeinen Anwendung dieses Princips würden wir für unsern ganzen Staat über vierhundert Landarmenverbände erhalten, deren Beaufsichtigung durch die Centralbehörden nicht durchzuführen sein würde und von denen gewiß oft der eine oder der andere außer Stand wäre, feinen Verpflichtungen gehörig zu genügen. Sind dagegen die Provinzen selbst Landarmenverbände, so ist die Ober¬ aufsicht der Sentralbehörden des Staats über die einzelnen Landarmenver¬ bände keine sehr schwierige, und der Fall, daß der Staat mit seinen Mitteln zur Unterstützung der nothleidenden Provinz eintreten müßte, wird gewiß nur höchst selten vorkommen. Diese Reformvorschläge lassen das Grundprinzip unserer heutigen Armen¬ gesetzgebung, daß nämlich zunächst die Gemeinde oder der Gutsbezirk und nur subsidiär der Landarmenverband und der Staat für den nothdürftigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/162>, abgerufen am 02.07.2024.