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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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daß ein auf den Koran geleisteter Eid sie ihren Interessen zuwider binden
könne. Zugleich sind sie blutgierig und rachsüchtig; nie sind sie ohne Waffen,
beim Weiden ihrer Thiere, beim Ackern der Felder, beim Treiben von Mast¬
vieh immer bewaffnet. Fortwährend sind sie unter einander im Kriege, jeder
Stamm und jede Stammesabtheilung hat ihre eigenen selbstmörderischen
Kämpfe, jede Familie ihre erblichen Blutfehden, jedes Jndividium seine per¬
sönlichen Feinde. Kaum gibt es einen Menschen, dessen Hände nicht blut¬
befleckt wären; jeder zählt seine Morde; jeder Stamm hat sein Schuld-
und Forderungsconto mit seinen Nachbaren; Leben für Leben. Wie sie das
Leben Anderer mißachten, schonen sie auch ihr eigenes nicht. Sie besitzen
Muth und Ritterlichkeit und bewundern diese Eigenschaften auch an Anderen;
Leute von derselben Partei werden in der Gefahr zu einander halten. Gast¬
freundschaft ist in ihren Augen die oberste Verpflichtung. Jeder, der bis in
ihre Wohnungen gelangt, ist nicht allein sicher, sondern auch wohl empfan¬
gen. Sie sind mildthätig gegen die Armen ihres Stammes. Sie besitzen Ge¬
burtsstolz und halten auf Geschlechterverbindungen. Der Civilisation sind sie
nicht abgeneigt, sobald sie deren Wohlthaten empfunden haben; sie nehmen
Kriegsdienste und obgleich ungeduldig unter der Disciplin, sind sie doch
treu, soweit ihr Fanatismus nicht mit ins Spiel kommt."

Die Gegend, die sie bewohnen, hohe bewaldete Berge und wasserreiche
fruchtbare Thäler, die Ausläufer des alpenartigen Hindukusch wird von einem
anderen Berichterstatter, dem Major Fames, Commissär des Pendjab ge¬
schildert:

"Alle die, welche unter den Afghanen gereist sind und sie in ihren ein¬
samen Thälern besucht haben, bewahren eine angenehme Erinnerung an das
Land. Wenn man aus den wilden und felsigen Engpässen hinaustritt, die
hier und da auf der Spitze einer Bergkuppe einen einsamen Wachthurm tra¬
gen, .kommt man mit einemmale in ein erweitertes Thal und an die Dorf¬
stätte. Wasserquellen von erfrischender Kühle laufen aus Felsencisternen in
den Bach, der durch den Engpaß abfließt und hier mit Reihen von Trauer¬
weiden besetzt und von saftigen Wiesen umgeben ist. Das Dorf liegt halb
verborgen unter überschattenden Maulbeerbäumen und Pappeln, die benach¬
barten Felder sind bunt von einer Masse wilder Blumen und wohlriechender
Kräuter. In kurzer Entfernung sieht man ein Wäldchen von Dornengebüsch
und Tamarisken mit den Gräbern der Dorfvorväter; ein umgebender Stein¬
wall, Votivtafeln und Tuchlappen, die von den benachbarten Bäumen herab¬
hängen, deuten auf das Zizarus irgend eines heiligen Alten, an dem die
Kinder mit Scheu und die Erwachsenen mit Ehrfurcht vorübergehen. Der
Traum von Frieden und Ruhe, den die Betrachtung solcher Scenen auf¬
kommen läßt, wird aber gröblich gestört durch den bewaffneten Pflüger, der


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daß ein auf den Koran geleisteter Eid sie ihren Interessen zuwider binden
könne. Zugleich sind sie blutgierig und rachsüchtig; nie sind sie ohne Waffen,
beim Weiden ihrer Thiere, beim Ackern der Felder, beim Treiben von Mast¬
vieh immer bewaffnet. Fortwährend sind sie unter einander im Kriege, jeder
Stamm und jede Stammesabtheilung hat ihre eigenen selbstmörderischen
Kämpfe, jede Familie ihre erblichen Blutfehden, jedes Jndividium seine per¬
sönlichen Feinde. Kaum gibt es einen Menschen, dessen Hände nicht blut¬
befleckt wären; jeder zählt seine Morde; jeder Stamm hat sein Schuld-
und Forderungsconto mit seinen Nachbaren; Leben für Leben. Wie sie das
Leben Anderer mißachten, schonen sie auch ihr eigenes nicht. Sie besitzen
Muth und Ritterlichkeit und bewundern diese Eigenschaften auch an Anderen;
Leute von derselben Partei werden in der Gefahr zu einander halten. Gast¬
freundschaft ist in ihren Augen die oberste Verpflichtung. Jeder, der bis in
ihre Wohnungen gelangt, ist nicht allein sicher, sondern auch wohl empfan¬
gen. Sie sind mildthätig gegen die Armen ihres Stammes. Sie besitzen Ge¬
burtsstolz und halten auf Geschlechterverbindungen. Der Civilisation sind sie
nicht abgeneigt, sobald sie deren Wohlthaten empfunden haben; sie nehmen
Kriegsdienste und obgleich ungeduldig unter der Disciplin, sind sie doch
treu, soweit ihr Fanatismus nicht mit ins Spiel kommt."

Die Gegend, die sie bewohnen, hohe bewaldete Berge und wasserreiche
fruchtbare Thäler, die Ausläufer des alpenartigen Hindukusch wird von einem
anderen Berichterstatter, dem Major Fames, Commissär des Pendjab ge¬
schildert:

„Alle die, welche unter den Afghanen gereist sind und sie in ihren ein¬
samen Thälern besucht haben, bewahren eine angenehme Erinnerung an das
Land. Wenn man aus den wilden und felsigen Engpässen hinaustritt, die
hier und da auf der Spitze einer Bergkuppe einen einsamen Wachthurm tra¬
gen, .kommt man mit einemmale in ein erweitertes Thal und an die Dorf¬
stätte. Wasserquellen von erfrischender Kühle laufen aus Felsencisternen in
den Bach, der durch den Engpaß abfließt und hier mit Reihen von Trauer¬
weiden besetzt und von saftigen Wiesen umgeben ist. Das Dorf liegt halb
verborgen unter überschattenden Maulbeerbäumen und Pappeln, die benach¬
barten Felder sind bunt von einer Masse wilder Blumen und wohlriechender
Kräuter. In kurzer Entfernung sieht man ein Wäldchen von Dornengebüsch
und Tamarisken mit den Gräbern der Dorfvorväter; ein umgebender Stein¬
wall, Votivtafeln und Tuchlappen, die von den benachbarten Bäumen herab¬
hängen, deuten auf das Zizarus irgend eines heiligen Alten, an dem die
Kinder mit Scheu und die Erwachsenen mit Ehrfurcht vorübergehen. Der
Traum von Frieden und Ruhe, den die Betrachtung solcher Scenen auf¬
kommen läßt, wird aber gröblich gestört durch den bewaffneten Pflüger, der


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[0139] daß ein auf den Koran geleisteter Eid sie ihren Interessen zuwider binden könne. Zugleich sind sie blutgierig und rachsüchtig; nie sind sie ohne Waffen, beim Weiden ihrer Thiere, beim Ackern der Felder, beim Treiben von Mast¬ vieh immer bewaffnet. Fortwährend sind sie unter einander im Kriege, jeder Stamm und jede Stammesabtheilung hat ihre eigenen selbstmörderischen Kämpfe, jede Familie ihre erblichen Blutfehden, jedes Jndividium seine per¬ sönlichen Feinde. Kaum gibt es einen Menschen, dessen Hände nicht blut¬ befleckt wären; jeder zählt seine Morde; jeder Stamm hat sein Schuld- und Forderungsconto mit seinen Nachbaren; Leben für Leben. Wie sie das Leben Anderer mißachten, schonen sie auch ihr eigenes nicht. Sie besitzen Muth und Ritterlichkeit und bewundern diese Eigenschaften auch an Anderen; Leute von derselben Partei werden in der Gefahr zu einander halten. Gast¬ freundschaft ist in ihren Augen die oberste Verpflichtung. Jeder, der bis in ihre Wohnungen gelangt, ist nicht allein sicher, sondern auch wohl empfan¬ gen. Sie sind mildthätig gegen die Armen ihres Stammes. Sie besitzen Ge¬ burtsstolz und halten auf Geschlechterverbindungen. Der Civilisation sind sie nicht abgeneigt, sobald sie deren Wohlthaten empfunden haben; sie nehmen Kriegsdienste und obgleich ungeduldig unter der Disciplin, sind sie doch treu, soweit ihr Fanatismus nicht mit ins Spiel kommt." Die Gegend, die sie bewohnen, hohe bewaldete Berge und wasserreiche fruchtbare Thäler, die Ausläufer des alpenartigen Hindukusch wird von einem anderen Berichterstatter, dem Major Fames, Commissär des Pendjab ge¬ schildert: „Alle die, welche unter den Afghanen gereist sind und sie in ihren ein¬ samen Thälern besucht haben, bewahren eine angenehme Erinnerung an das Land. Wenn man aus den wilden und felsigen Engpässen hinaustritt, die hier und da auf der Spitze einer Bergkuppe einen einsamen Wachthurm tra¬ gen, .kommt man mit einemmale in ein erweitertes Thal und an die Dorf¬ stätte. Wasserquellen von erfrischender Kühle laufen aus Felsencisternen in den Bach, der durch den Engpaß abfließt und hier mit Reihen von Trauer¬ weiden besetzt und von saftigen Wiesen umgeben ist. Das Dorf liegt halb verborgen unter überschattenden Maulbeerbäumen und Pappeln, die benach¬ barten Felder sind bunt von einer Masse wilder Blumen und wohlriechender Kräuter. In kurzer Entfernung sieht man ein Wäldchen von Dornengebüsch und Tamarisken mit den Gräbern der Dorfvorväter; ein umgebender Stein¬ wall, Votivtafeln und Tuchlappen, die von den benachbarten Bäumen herab¬ hängen, deuten auf das Zizarus irgend eines heiligen Alten, an dem die Kinder mit Scheu und die Erwachsenen mit Ehrfurcht vorübergehen. Der Traum von Frieden und Ruhe, den die Betrachtung solcher Scenen auf¬ kommen läßt, wird aber gröblich gestört durch den bewaffneten Pflüger, der 16*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/139>, abgerufen am 02.07.2024.