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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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Darstellung ein Bild dei Situation zu geben, in welcher sich die englische
Grenze nach Afghanistan zu befindet, so heißt das wohl nichts anderes, als
dem Leser überlassen, aus einer Episode der dort fortdauernden kleinen Kriege
selbst den Schluß zu ziehen, ob England gerade an demjenigen Punkte, den
der erste russische Vorstoß nach Südosten treffen würde, an Hilfsquellen und
Widerstandskraft stark ist.

Das Buch des Obersten Adye verdient daher wohl in diesem Augenblick
einige Beachtung, abgesehen davon, daß es über die Art der in diesen Ge¬
genden nothwendigen Kriegsführung und über das von England dort ver¬
folgte System interessante Aufschlüsse gibt.

Seit zwanzig Jahren hält England die Jnduslinie bis zu der diesen
Strom westlich begleitenden Gebirgskette besetzt und hat im Laufe der Jahre
zur Sicherheit seiner Position an nicht weniger als 45 Orten Befestigungen
angelegt. Ungefähr 10,000 Mann europäischer Truppen stehen unter einem
vom Generalgouvemeur des Pendjab unabhängigen Commando im Centrum
und dem wichtigsten Punkte der Position in Peshawur, auf dem linken Jn-
dusufer, am östlichen Endpunkt des Khyberpasses. Ebensoviel Mann, rekru-
tirt aus den einheimischen Gebirgsstämmen, vertheilen sich längs der Grenze,
die sie abpatrouilliren, und führen einen fortwährenden kleinen Krieg mit
ihren eignen Landsleuten, die aus ihren Gebirgen plündernd und verhee¬
rend hinabsteigen. Diese Völkerschaften der Grenze, zwar afghanischer Na¬
tionalität aber von Kabul unabhängig, haben sich dem englischen Einfluß
bisher vollständig entzogen und sind keinesweges zu verachtende Feinde. Mr.
Temple, früherer Secretär bei dem Generalgouvemeur des Pendjab sagt von
ihnen in einem amtlichen Berichte:

"Diese Stämme sind Wilde, edle Wilde vielleicht und nicht ohne einen
Anflug von Tugend und Edelmuth, aber immerhin doch Barbaren. Sie sind
großenteils ohne eine Spur von Erziehung und haben nur dem Namen
nach eine Religion; das Credo des Muhamed, wie es von ihnen verstanden
wird, ist nicht besser, als der wildeste Aberglaube. In ihren Augen ist
das erste Gesetz: Blut für Blut, Feuer und Schwert gegen alle Ungläubige.
Sie sind abergläubisch und stehen unter der Herrschaft der Priester; aber ihre
Mollahs sind ebenso unwissend wie sie selbst und benutzen ihren Einfluß nur
dazu, Kreuzzüge gegen die Ungläubigen zu predigen. Sie achten zwar ihre
Frauen, aber ihre Grundsätze bei Heirathen und Verlobungen widersprechen
der socialen Entwickelung. Habgierig sind sie und würden für Gold jedes
Verbrechen begehen, außer ihren Gast verrathen. Sie sind diebisch und raub¬
lustig im höchsten Grade. Die Pathanische Mutter wird oft beten, daß Gott
ihren Sohn zu einem glücklichen Räuber machen möge. Bei öffentlichen Ver¬
trägen sind sie absolut unzuverlässig; es würde ihnen nie in den Kopf gehen,


Darstellung ein Bild dei Situation zu geben, in welcher sich die englische
Grenze nach Afghanistan zu befindet, so heißt das wohl nichts anderes, als
dem Leser überlassen, aus einer Episode der dort fortdauernden kleinen Kriege
selbst den Schluß zu ziehen, ob England gerade an demjenigen Punkte, den
der erste russische Vorstoß nach Südosten treffen würde, an Hilfsquellen und
Widerstandskraft stark ist.

Das Buch des Obersten Adye verdient daher wohl in diesem Augenblick
einige Beachtung, abgesehen davon, daß es über die Art der in diesen Ge¬
genden nothwendigen Kriegsführung und über das von England dort ver¬
folgte System interessante Aufschlüsse gibt.

Seit zwanzig Jahren hält England die Jnduslinie bis zu der diesen
Strom westlich begleitenden Gebirgskette besetzt und hat im Laufe der Jahre
zur Sicherheit seiner Position an nicht weniger als 45 Orten Befestigungen
angelegt. Ungefähr 10,000 Mann europäischer Truppen stehen unter einem
vom Generalgouvemeur des Pendjab unabhängigen Commando im Centrum
und dem wichtigsten Punkte der Position in Peshawur, auf dem linken Jn-
dusufer, am östlichen Endpunkt des Khyberpasses. Ebensoviel Mann, rekru-
tirt aus den einheimischen Gebirgsstämmen, vertheilen sich längs der Grenze,
die sie abpatrouilliren, und führen einen fortwährenden kleinen Krieg mit
ihren eignen Landsleuten, die aus ihren Gebirgen plündernd und verhee¬
rend hinabsteigen. Diese Völkerschaften der Grenze, zwar afghanischer Na¬
tionalität aber von Kabul unabhängig, haben sich dem englischen Einfluß
bisher vollständig entzogen und sind keinesweges zu verachtende Feinde. Mr.
Temple, früherer Secretär bei dem Generalgouvemeur des Pendjab sagt von
ihnen in einem amtlichen Berichte:

„Diese Stämme sind Wilde, edle Wilde vielleicht und nicht ohne einen
Anflug von Tugend und Edelmuth, aber immerhin doch Barbaren. Sie sind
großenteils ohne eine Spur von Erziehung und haben nur dem Namen
nach eine Religion; das Credo des Muhamed, wie es von ihnen verstanden
wird, ist nicht besser, als der wildeste Aberglaube. In ihren Augen ist
das erste Gesetz: Blut für Blut, Feuer und Schwert gegen alle Ungläubige.
Sie sind abergläubisch und stehen unter der Herrschaft der Priester; aber ihre
Mollahs sind ebenso unwissend wie sie selbst und benutzen ihren Einfluß nur
dazu, Kreuzzüge gegen die Ungläubigen zu predigen. Sie achten zwar ihre
Frauen, aber ihre Grundsätze bei Heirathen und Verlobungen widersprechen
der socialen Entwickelung. Habgierig sind sie und würden für Gold jedes
Verbrechen begehen, außer ihren Gast verrathen. Sie sind diebisch und raub¬
lustig im höchsten Grade. Die Pathanische Mutter wird oft beten, daß Gott
ihren Sohn zu einem glücklichen Räuber machen möge. Bei öffentlichen Ver¬
trägen sind sie absolut unzuverlässig; es würde ihnen nie in den Kopf gehen,


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[0138] Darstellung ein Bild dei Situation zu geben, in welcher sich die englische Grenze nach Afghanistan zu befindet, so heißt das wohl nichts anderes, als dem Leser überlassen, aus einer Episode der dort fortdauernden kleinen Kriege selbst den Schluß zu ziehen, ob England gerade an demjenigen Punkte, den der erste russische Vorstoß nach Südosten treffen würde, an Hilfsquellen und Widerstandskraft stark ist. Das Buch des Obersten Adye verdient daher wohl in diesem Augenblick einige Beachtung, abgesehen davon, daß es über die Art der in diesen Ge¬ genden nothwendigen Kriegsführung und über das von England dort ver¬ folgte System interessante Aufschlüsse gibt. Seit zwanzig Jahren hält England die Jnduslinie bis zu der diesen Strom westlich begleitenden Gebirgskette besetzt und hat im Laufe der Jahre zur Sicherheit seiner Position an nicht weniger als 45 Orten Befestigungen angelegt. Ungefähr 10,000 Mann europäischer Truppen stehen unter einem vom Generalgouvemeur des Pendjab unabhängigen Commando im Centrum und dem wichtigsten Punkte der Position in Peshawur, auf dem linken Jn- dusufer, am östlichen Endpunkt des Khyberpasses. Ebensoviel Mann, rekru- tirt aus den einheimischen Gebirgsstämmen, vertheilen sich längs der Grenze, die sie abpatrouilliren, und führen einen fortwährenden kleinen Krieg mit ihren eignen Landsleuten, die aus ihren Gebirgen plündernd und verhee¬ rend hinabsteigen. Diese Völkerschaften der Grenze, zwar afghanischer Na¬ tionalität aber von Kabul unabhängig, haben sich dem englischen Einfluß bisher vollständig entzogen und sind keinesweges zu verachtende Feinde. Mr. Temple, früherer Secretär bei dem Generalgouvemeur des Pendjab sagt von ihnen in einem amtlichen Berichte: „Diese Stämme sind Wilde, edle Wilde vielleicht und nicht ohne einen Anflug von Tugend und Edelmuth, aber immerhin doch Barbaren. Sie sind großenteils ohne eine Spur von Erziehung und haben nur dem Namen nach eine Religion; das Credo des Muhamed, wie es von ihnen verstanden wird, ist nicht besser, als der wildeste Aberglaube. In ihren Augen ist das erste Gesetz: Blut für Blut, Feuer und Schwert gegen alle Ungläubige. Sie sind abergläubisch und stehen unter der Herrschaft der Priester; aber ihre Mollahs sind ebenso unwissend wie sie selbst und benutzen ihren Einfluß nur dazu, Kreuzzüge gegen die Ungläubigen zu predigen. Sie achten zwar ihre Frauen, aber ihre Grundsätze bei Heirathen und Verlobungen widersprechen der socialen Entwickelung. Habgierig sind sie und würden für Gold jedes Verbrechen begehen, außer ihren Gast verrathen. Sie sind diebisch und raub¬ lustig im höchsten Grade. Die Pathanische Mutter wird oft beten, daß Gott ihren Sohn zu einem glücklichen Räuber machen möge. Bei öffentlichen Ver¬ trägen sind sie absolut unzuverlässig; es würde ihnen nie in den Kopf gehen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/138>, abgerufen am 02.07.2024.