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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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ihnen eine wirkliche Geheimschrift, etwa die Chiffern einer Priester- oder gar
Druidenkaste sehen, oder man behauptete, sie seien nicht anders wie jede
andere alphabetische Schrift von jedermann, der sie habe lernen wollen, und
zu jedem Zwecke verwandt worden. Losgerissene sogenannte Quellenbelege
schienen das eine wie das andere zu beweisen. Die neuere kritische Periode
der deutschen Alterthumskunde hat auch hier Licht geschafft und namentlich
sind es die beiden Essays von Müllenhoff und Liliencron "Zur Runen¬
lehre" aus dem Jahre 1852, die als Basis unserer gegenwärtigen klareren
Vorstellungen gelten müssen. Darnach sind die Runen wenigstens in der
Urzeit, also vor der Völkerwanderung, zwar keine Geheimschrift gewesen, aber
doch nur zu ganz bestimmten geweihten Functionen verwandt worden. Den
Willen der Götter erforschte man durch sie, indem man sie auf einzelne
Stäbe aus Zweigen heiliger Bäume schnitt und mittelst eines sorgfältig ge¬
regelten Loosens Worte, oder um es gleich zu sagen, Verse, wie sie einst auch
die Pythia gesprochen, bildete. Zauberei aller Art wurde damit getrieben, so¬
wohl diejenigen, welche unter dem Schutze und nachdem Willen, ja nach der
Ueberweisung der Götter selbst geschah, als jene andere dämonische, wenn
man die Seele dem Walten finsterer Mächte hingab, um dafür eine Kraft
zu erlangen, welche weit über das menschliche Maß hinausreichte. Segen
und Fluch, wo immer nur solcher paßte, Heilung und Verwundung, Sieg
und Niederlage, Reichthum und Armuth, Wachsen und Schwinden des
Menschenalters oder der Feldfrüchte und Herden konnte man durch sie schaffen.
Daraus begreift sich auch ihre Verwendung auf den verschiedenartigsten
Gerathen, die zum Schutze und zum Schmucke dienten, auf Waffen, Münzen,
Ringen, Spangen u. f. w., ebenso aber auch, daß man Haus und Hof, Vieh
und alle andere fahrende Habe durch sie unter den besondern Schirm der
Götter oder eines Gottes stellte. -- Daraus haben sich denn jene räthsel¬
haften Hausmarken abgeleitet, die als völlig unverstandene Sitte noch bis
zur Gegenwart dauern. Ihr seltsames Gefüge aus meist geradlinien Stäben,
die in den verschiedensten Combinationen einander berühren oder auseinander
weichen, ist nichts weiter, als eine willkürliche Umbildung einfacher oder com-
binirter Runenzeichen, deren Sinn natürlich seit einem Jahrtausend verloren
ging. Kein Gebiet des häuslichen und öffentlichen Daseins konnte diese
heilige Schrift entbehren. Sie war dem Gemüth des Germanen um so
näher verwandt, als ihm der eigentlich plastische Trieb wenigstens nicht in
der Fülle und Freudigkeit wie seinen südlichen Stammesbrüder, den Hellenen
und Jtalern eingepflanzt war. Die Rune selbst, die ein naives Auge recht
wohl für das, was wir jetzt Arabesken nennen, halten darf, ist außer dem
Schriftzeichen auf diese Art auch Bild, wenigstens symbolischer Ersatz eines
Bildes, und das sinnige Auge unserer Urahnen mag, wenn es die eckigen


ihnen eine wirkliche Geheimschrift, etwa die Chiffern einer Priester- oder gar
Druidenkaste sehen, oder man behauptete, sie seien nicht anders wie jede
andere alphabetische Schrift von jedermann, der sie habe lernen wollen, und
zu jedem Zwecke verwandt worden. Losgerissene sogenannte Quellenbelege
schienen das eine wie das andere zu beweisen. Die neuere kritische Periode
der deutschen Alterthumskunde hat auch hier Licht geschafft und namentlich
sind es die beiden Essays von Müllenhoff und Liliencron „Zur Runen¬
lehre" aus dem Jahre 1852, die als Basis unserer gegenwärtigen klareren
Vorstellungen gelten müssen. Darnach sind die Runen wenigstens in der
Urzeit, also vor der Völkerwanderung, zwar keine Geheimschrift gewesen, aber
doch nur zu ganz bestimmten geweihten Functionen verwandt worden. Den
Willen der Götter erforschte man durch sie, indem man sie auf einzelne
Stäbe aus Zweigen heiliger Bäume schnitt und mittelst eines sorgfältig ge¬
regelten Loosens Worte, oder um es gleich zu sagen, Verse, wie sie einst auch
die Pythia gesprochen, bildete. Zauberei aller Art wurde damit getrieben, so¬
wohl diejenigen, welche unter dem Schutze und nachdem Willen, ja nach der
Ueberweisung der Götter selbst geschah, als jene andere dämonische, wenn
man die Seele dem Walten finsterer Mächte hingab, um dafür eine Kraft
zu erlangen, welche weit über das menschliche Maß hinausreichte. Segen
und Fluch, wo immer nur solcher paßte, Heilung und Verwundung, Sieg
und Niederlage, Reichthum und Armuth, Wachsen und Schwinden des
Menschenalters oder der Feldfrüchte und Herden konnte man durch sie schaffen.
Daraus begreift sich auch ihre Verwendung auf den verschiedenartigsten
Gerathen, die zum Schutze und zum Schmucke dienten, auf Waffen, Münzen,
Ringen, Spangen u. f. w., ebenso aber auch, daß man Haus und Hof, Vieh
und alle andere fahrende Habe durch sie unter den besondern Schirm der
Götter oder eines Gottes stellte. — Daraus haben sich denn jene räthsel¬
haften Hausmarken abgeleitet, die als völlig unverstandene Sitte noch bis
zur Gegenwart dauern. Ihr seltsames Gefüge aus meist geradlinien Stäben,
die in den verschiedensten Combinationen einander berühren oder auseinander
weichen, ist nichts weiter, als eine willkürliche Umbildung einfacher oder com-
binirter Runenzeichen, deren Sinn natürlich seit einem Jahrtausend verloren
ging. Kein Gebiet des häuslichen und öffentlichen Daseins konnte diese
heilige Schrift entbehren. Sie war dem Gemüth des Germanen um so
näher verwandt, als ihm der eigentlich plastische Trieb wenigstens nicht in
der Fülle und Freudigkeit wie seinen südlichen Stammesbrüder, den Hellenen
und Jtalern eingepflanzt war. Die Rune selbst, die ein naives Auge recht
wohl für das, was wir jetzt Arabesken nennen, halten darf, ist außer dem
Schriftzeichen auf diese Art auch Bild, wenigstens symbolischer Ersatz eines
Bildes, und das sinnige Auge unserer Urahnen mag, wenn es die eckigen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/120>, abgerufen am 02.07.2024.