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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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Ganzen von zwei und nicht von drei, vier, fünf oder zwölf oder gar noch
mehr sprechen. Denn in der Hauptsache zählen eben nur jene zwei Grund¬
formen, nicht aber die zahlreichen Varietäten und Spielarten hüben und
drüben. Diese selbst, an sich begreiflich genug aus der Zeit, dem Kulturstand
der einzelnen Völker und dem Verhältniß der Schreibenden zur Schrift, ge¬
währen freilich nur ein untergeordnetes Interesse, werden aber doch auch der
Forschung, wenn sie sich einst von andern größern Siegen herkommend ihnen
zuwendet manche brauchbare Ausbeute geben. Viel scheint hier aus reiner
Willkür, aus bewußtem Bestreben nach etwas absonderlichen zu stam¬
men, und manche Runen nähern sich dem, was wir unter einer Chiffern-
schrift verstehen, die nur nach besonderer Verabredung und mit Hilfe eines
eigenen Schlüssels lesbar sein soll. Ursprünglich ist dies ja keineswegs
die Tendenz der Runen im Allgemeinen: das Wort rung, bedeutet zwar Ge¬
heimniß, aber nicht in dem so zu sagen gnostischen Sinn, den die gewohnte
Vorstellung damit verbindet. Es zielt auf die geheimnißvolle Zauberkraft,
auf den göttlichen Segen oder Fluch, der sich diesen Zeichen im Gemüthe
derer angeheftet hatten, welche damit umgingen. Aber geschrieben wurden sie
von Anfang an in derselben Absicht, in der alle Leute zu allen Zeiten zu
schreiben pflegten, daß sie von möglichst vielen d. h. allen, die lesen gelernt
hatten, auch wirklich verstanden werden sollten.

Daß sich in dem jüngeren längeren Alphabete verhältnißmäßig weniger
willkürliche Zusätze und Umbildungen finden, als in dem älteren, kann nur
einen Augenblick befremden. Erwägt man die Lebensgeschichte beider, so be¬
greift es sich leicht. Das kürzere blieb Jahrhunderte lang populär im eminen¬
tester Sinn des Wortes, das ausführlichere ist überall mit dem Eindrin¬
gen des lateinischen Alphabets und der es protegirenden neuen Religion be¬
seitigt worden. Es durfte sich nur als Abnormität erhalten und als solche war
es natürlich auch jeder spielenden Willkür mönchischer Kuriositäten- und
Raritätenkrämer preisgegeben. Ihre wohlbekannten Federstriche sind es,
denen wir die Erhaltung, freilich aber auch die Verstümmelung dieser uralten
Schriftwelt verdanken, so weit sie uns Bücher überliefern.

Zu dem Totalbilde der Runen gehört aber auch zu wissen, wie sie mit
der Sitte und den Lebensgewohnheiten unseres Volkes verbunden waren.
Die besten Aufschlüsse werden sie selbst geben d. h. eine richtige Lesung und
Erklärung aller der Inschriften, auf denen sie verwandt wurden. Aber theils
ist dieß noch nicht so weit vorgeschritten, um überall die beiden nothwendig
vorausgesetzten Prädicate beanspruchen zu dürfen, theils kommt es auch darauf
an, eine Menge anderer Notizen, die sich in den übrigen Quellen der Ge¬
schichte auf sie beziehen, richtig zu verwerthen. Auch hierbei hat es früher
an den einfältigsten Vorstellungen nicht gefehlt. Entweder wollte man in


Grenzboten til. 1868, 14

Ganzen von zwei und nicht von drei, vier, fünf oder zwölf oder gar noch
mehr sprechen. Denn in der Hauptsache zählen eben nur jene zwei Grund¬
formen, nicht aber die zahlreichen Varietäten und Spielarten hüben und
drüben. Diese selbst, an sich begreiflich genug aus der Zeit, dem Kulturstand
der einzelnen Völker und dem Verhältniß der Schreibenden zur Schrift, ge¬
währen freilich nur ein untergeordnetes Interesse, werden aber doch auch der
Forschung, wenn sie sich einst von andern größern Siegen herkommend ihnen
zuwendet manche brauchbare Ausbeute geben. Viel scheint hier aus reiner
Willkür, aus bewußtem Bestreben nach etwas absonderlichen zu stam¬
men, und manche Runen nähern sich dem, was wir unter einer Chiffern-
schrift verstehen, die nur nach besonderer Verabredung und mit Hilfe eines
eigenen Schlüssels lesbar sein soll. Ursprünglich ist dies ja keineswegs
die Tendenz der Runen im Allgemeinen: das Wort rung, bedeutet zwar Ge¬
heimniß, aber nicht in dem so zu sagen gnostischen Sinn, den die gewohnte
Vorstellung damit verbindet. Es zielt auf die geheimnißvolle Zauberkraft,
auf den göttlichen Segen oder Fluch, der sich diesen Zeichen im Gemüthe
derer angeheftet hatten, welche damit umgingen. Aber geschrieben wurden sie
von Anfang an in derselben Absicht, in der alle Leute zu allen Zeiten zu
schreiben pflegten, daß sie von möglichst vielen d. h. allen, die lesen gelernt
hatten, auch wirklich verstanden werden sollten.

Daß sich in dem jüngeren längeren Alphabete verhältnißmäßig weniger
willkürliche Zusätze und Umbildungen finden, als in dem älteren, kann nur
einen Augenblick befremden. Erwägt man die Lebensgeschichte beider, so be¬
greift es sich leicht. Das kürzere blieb Jahrhunderte lang populär im eminen¬
tester Sinn des Wortes, das ausführlichere ist überall mit dem Eindrin¬
gen des lateinischen Alphabets und der es protegirenden neuen Religion be¬
seitigt worden. Es durfte sich nur als Abnormität erhalten und als solche war
es natürlich auch jeder spielenden Willkür mönchischer Kuriositäten- und
Raritätenkrämer preisgegeben. Ihre wohlbekannten Federstriche sind es,
denen wir die Erhaltung, freilich aber auch die Verstümmelung dieser uralten
Schriftwelt verdanken, so weit sie uns Bücher überliefern.

Zu dem Totalbilde der Runen gehört aber auch zu wissen, wie sie mit
der Sitte und den Lebensgewohnheiten unseres Volkes verbunden waren.
Die besten Aufschlüsse werden sie selbst geben d. h. eine richtige Lesung und
Erklärung aller der Inschriften, auf denen sie verwandt wurden. Aber theils
ist dieß noch nicht so weit vorgeschritten, um überall die beiden nothwendig
vorausgesetzten Prädicate beanspruchen zu dürfen, theils kommt es auch darauf
an, eine Menge anderer Notizen, die sich in den übrigen Quellen der Ge¬
schichte auf sie beziehen, richtig zu verwerthen. Auch hierbei hat es früher
an den einfältigsten Vorstellungen nicht gefehlt. Entweder wollte man in


Grenzboten til. 1868, 14
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[0119] Ganzen von zwei und nicht von drei, vier, fünf oder zwölf oder gar noch mehr sprechen. Denn in der Hauptsache zählen eben nur jene zwei Grund¬ formen, nicht aber die zahlreichen Varietäten und Spielarten hüben und drüben. Diese selbst, an sich begreiflich genug aus der Zeit, dem Kulturstand der einzelnen Völker und dem Verhältniß der Schreibenden zur Schrift, ge¬ währen freilich nur ein untergeordnetes Interesse, werden aber doch auch der Forschung, wenn sie sich einst von andern größern Siegen herkommend ihnen zuwendet manche brauchbare Ausbeute geben. Viel scheint hier aus reiner Willkür, aus bewußtem Bestreben nach etwas absonderlichen zu stam¬ men, und manche Runen nähern sich dem, was wir unter einer Chiffern- schrift verstehen, die nur nach besonderer Verabredung und mit Hilfe eines eigenen Schlüssels lesbar sein soll. Ursprünglich ist dies ja keineswegs die Tendenz der Runen im Allgemeinen: das Wort rung, bedeutet zwar Ge¬ heimniß, aber nicht in dem so zu sagen gnostischen Sinn, den die gewohnte Vorstellung damit verbindet. Es zielt auf die geheimnißvolle Zauberkraft, auf den göttlichen Segen oder Fluch, der sich diesen Zeichen im Gemüthe derer angeheftet hatten, welche damit umgingen. Aber geschrieben wurden sie von Anfang an in derselben Absicht, in der alle Leute zu allen Zeiten zu schreiben pflegten, daß sie von möglichst vielen d. h. allen, die lesen gelernt hatten, auch wirklich verstanden werden sollten. Daß sich in dem jüngeren längeren Alphabete verhältnißmäßig weniger willkürliche Zusätze und Umbildungen finden, als in dem älteren, kann nur einen Augenblick befremden. Erwägt man die Lebensgeschichte beider, so be¬ greift es sich leicht. Das kürzere blieb Jahrhunderte lang populär im eminen¬ tester Sinn des Wortes, das ausführlichere ist überall mit dem Eindrin¬ gen des lateinischen Alphabets und der es protegirenden neuen Religion be¬ seitigt worden. Es durfte sich nur als Abnormität erhalten und als solche war es natürlich auch jeder spielenden Willkür mönchischer Kuriositäten- und Raritätenkrämer preisgegeben. Ihre wohlbekannten Federstriche sind es, denen wir die Erhaltung, freilich aber auch die Verstümmelung dieser uralten Schriftwelt verdanken, so weit sie uns Bücher überliefern. Zu dem Totalbilde der Runen gehört aber auch zu wissen, wie sie mit der Sitte und den Lebensgewohnheiten unseres Volkes verbunden waren. Die besten Aufschlüsse werden sie selbst geben d. h. eine richtige Lesung und Erklärung aller der Inschriften, auf denen sie verwandt wurden. Aber theils ist dieß noch nicht so weit vorgeschritten, um überall die beiden nothwendig vorausgesetzten Prädicate beanspruchen zu dürfen, theils kommt es auch darauf an, eine Menge anderer Notizen, die sich in den übrigen Quellen der Ge¬ schichte auf sie beziehen, richtig zu verwerthen. Auch hierbei hat es früher an den einfältigsten Vorstellungen nicht gefehlt. Entweder wollte man in Grenzboten til. 1868, 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/119>, abgerufen am 02.07.2024.