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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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es allerdings unwahrscheinlich, daß schon in der Zeit des ungetrennten Da¬
seins der Indogermanen ein so intimer Verkehr mit den weit davon im
Westen wohnenden Semiten, namentlich mit Babylon stattgefunden habe,
wie er zur Uebertragung des Alphabets nöthig war. Aber nichts hindert,
vielmehr alles drängt dazu, diese Paropamisus>Hypotyese auszugeben und die
Ursitze der Indogermanen und Semiten nahe an einander, vielleicht in das
Quellland des Euphrat zu verlegen. Hat aber das Urvolk ein so unschätz.
bares Gut wie die Schrift besessen, so ist begreiflich, daß auch seine Auszügler
dasselbe nicht daheim ließen.

Mag man nun vom Standpunkt der eigenen Forschung die eine oder
die andere Annahme für die bessere oder minder bessere erklären --: Hypo¬
these bleibt hier alles noch. Dagegen ist es schon nicht mehr Hypothese,
sondern fester Gewinn der Wissenschaft, wenn wir die weitere Geschichte der
Runen verfolgen. Wie das Uralphabet ein einziges war, so müssen natür¬
lich auch die Einzelalphabete der Einzelvölker, die sich daraus ableiteten, ur¬
sprünglich einheitlich gewesen sein. Die Spaltung in zwei oder gar noch
mehrere Runenalphabete ist also jedenfalls von jüngerem Datum. Aus an¬
derweitigen Quellen, aus der Sprache, Datirung und Heimath der Inschrif¬
ten wissen wir, daß das kürzere Alphabet erst seit dem 9. Jahrhundert an¬
gewandt worden ist, wogegen viele Denkmäler des ausführlicheren erwiesener¬
maßen viel älter, wenn auch meist unbekannt, wie alt, find. Die Zeichen,
welche das ausführliche Alphabet in seinen nachweislich ältesten Verwen¬
dungen mehr enthält als das kürzere, -- es sind fünf oder sechs -- gehören
sämmtlich dem Uralphabet aller Indogermanen oder jener semitischen Vor¬
lage desselben an, sind also keine willkürlichen Erfindungen. Willkürlich da¬
gegen ist ihre Weglassung in dem jüngern Runenalphabet. Weshalb sie ge¬
schah, sagt uns Niemand, aber begreiflich, ist, daß wenn man viel und
zu praktischen Zwecken schrieb, wie es gerade mit diesem jungen Alphabet im
Gegensatz zu dem ältern geschah, man lieber mit weniger als mit mehr Buch¬
staben hantirte, falls die wenigen ausreichten, um den Sinn der geschrie¬
benen Worte zu verstehen. Und daß sie dazu genügten, lehrt die Erfahrung
bis auf den heutigen Tag. Wo es geschah und von wem -- denn eine solche
Veränderung setzt einen gewissen autokratischen Willen oder ein förmliches
Compromiß der Betheiligten voraus, -- ist nicht zu ermitteln. Es muß vor
dem 9. Jahrhun-dert und wahrscheinlich in Skandinavien geschehen sein,
denn nur skandinavische Germanen haben sich dieses Alphabets bedient.

In diesem Sinn ist es erlaubt, von einem älteren und jüngeren Runen¬
alphabet zu sprechen, nur muß man nicht übersehen, daß beide zeitweilig
recht wohl neben einander bestanden haben können, wenn sich bisher auch keine
äußeren Zeugnisse dafür gesunden haben. Ebenso darf man im Großen und


es allerdings unwahrscheinlich, daß schon in der Zeit des ungetrennten Da¬
seins der Indogermanen ein so intimer Verkehr mit den weit davon im
Westen wohnenden Semiten, namentlich mit Babylon stattgefunden habe,
wie er zur Uebertragung des Alphabets nöthig war. Aber nichts hindert,
vielmehr alles drängt dazu, diese Paropamisus>Hypotyese auszugeben und die
Ursitze der Indogermanen und Semiten nahe an einander, vielleicht in das
Quellland des Euphrat zu verlegen. Hat aber das Urvolk ein so unschätz.
bares Gut wie die Schrift besessen, so ist begreiflich, daß auch seine Auszügler
dasselbe nicht daheim ließen.

Mag man nun vom Standpunkt der eigenen Forschung die eine oder
die andere Annahme für die bessere oder minder bessere erklären —: Hypo¬
these bleibt hier alles noch. Dagegen ist es schon nicht mehr Hypothese,
sondern fester Gewinn der Wissenschaft, wenn wir die weitere Geschichte der
Runen verfolgen. Wie das Uralphabet ein einziges war, so müssen natür¬
lich auch die Einzelalphabete der Einzelvölker, die sich daraus ableiteten, ur¬
sprünglich einheitlich gewesen sein. Die Spaltung in zwei oder gar noch
mehrere Runenalphabete ist also jedenfalls von jüngerem Datum. Aus an¬
derweitigen Quellen, aus der Sprache, Datirung und Heimath der Inschrif¬
ten wissen wir, daß das kürzere Alphabet erst seit dem 9. Jahrhundert an¬
gewandt worden ist, wogegen viele Denkmäler des ausführlicheren erwiesener¬
maßen viel älter, wenn auch meist unbekannt, wie alt, find. Die Zeichen,
welche das ausführliche Alphabet in seinen nachweislich ältesten Verwen¬
dungen mehr enthält als das kürzere, — es sind fünf oder sechs — gehören
sämmtlich dem Uralphabet aller Indogermanen oder jener semitischen Vor¬
lage desselben an, sind also keine willkürlichen Erfindungen. Willkürlich da¬
gegen ist ihre Weglassung in dem jüngern Runenalphabet. Weshalb sie ge¬
schah, sagt uns Niemand, aber begreiflich, ist, daß wenn man viel und
zu praktischen Zwecken schrieb, wie es gerade mit diesem jungen Alphabet im
Gegensatz zu dem ältern geschah, man lieber mit weniger als mit mehr Buch¬
staben hantirte, falls die wenigen ausreichten, um den Sinn der geschrie¬
benen Worte zu verstehen. Und daß sie dazu genügten, lehrt die Erfahrung
bis auf den heutigen Tag. Wo es geschah und von wem — denn eine solche
Veränderung setzt einen gewissen autokratischen Willen oder ein förmliches
Compromiß der Betheiligten voraus, — ist nicht zu ermitteln. Es muß vor
dem 9. Jahrhun-dert und wahrscheinlich in Skandinavien geschehen sein,
denn nur skandinavische Germanen haben sich dieses Alphabets bedient.

In diesem Sinn ist es erlaubt, von einem älteren und jüngeren Runen¬
alphabet zu sprechen, nur muß man nicht übersehen, daß beide zeitweilig
recht wohl neben einander bestanden haben können, wenn sich bisher auch keine
äußeren Zeugnisse dafür gesunden haben. Ebenso darf man im Großen und


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[0118] es allerdings unwahrscheinlich, daß schon in der Zeit des ungetrennten Da¬ seins der Indogermanen ein so intimer Verkehr mit den weit davon im Westen wohnenden Semiten, namentlich mit Babylon stattgefunden habe, wie er zur Uebertragung des Alphabets nöthig war. Aber nichts hindert, vielmehr alles drängt dazu, diese Paropamisus>Hypotyese auszugeben und die Ursitze der Indogermanen und Semiten nahe an einander, vielleicht in das Quellland des Euphrat zu verlegen. Hat aber das Urvolk ein so unschätz. bares Gut wie die Schrift besessen, so ist begreiflich, daß auch seine Auszügler dasselbe nicht daheim ließen. Mag man nun vom Standpunkt der eigenen Forschung die eine oder die andere Annahme für die bessere oder minder bessere erklären —: Hypo¬ these bleibt hier alles noch. Dagegen ist es schon nicht mehr Hypothese, sondern fester Gewinn der Wissenschaft, wenn wir die weitere Geschichte der Runen verfolgen. Wie das Uralphabet ein einziges war, so müssen natür¬ lich auch die Einzelalphabete der Einzelvölker, die sich daraus ableiteten, ur¬ sprünglich einheitlich gewesen sein. Die Spaltung in zwei oder gar noch mehrere Runenalphabete ist also jedenfalls von jüngerem Datum. Aus an¬ derweitigen Quellen, aus der Sprache, Datirung und Heimath der Inschrif¬ ten wissen wir, daß das kürzere Alphabet erst seit dem 9. Jahrhundert an¬ gewandt worden ist, wogegen viele Denkmäler des ausführlicheren erwiesener¬ maßen viel älter, wenn auch meist unbekannt, wie alt, find. Die Zeichen, welche das ausführliche Alphabet in seinen nachweislich ältesten Verwen¬ dungen mehr enthält als das kürzere, — es sind fünf oder sechs — gehören sämmtlich dem Uralphabet aller Indogermanen oder jener semitischen Vor¬ lage desselben an, sind also keine willkürlichen Erfindungen. Willkürlich da¬ gegen ist ihre Weglassung in dem jüngern Runenalphabet. Weshalb sie ge¬ schah, sagt uns Niemand, aber begreiflich, ist, daß wenn man viel und zu praktischen Zwecken schrieb, wie es gerade mit diesem jungen Alphabet im Gegensatz zu dem ältern geschah, man lieber mit weniger als mit mehr Buch¬ staben hantirte, falls die wenigen ausreichten, um den Sinn der geschrie¬ benen Worte zu verstehen. Und daß sie dazu genügten, lehrt die Erfahrung bis auf den heutigen Tag. Wo es geschah und von wem — denn eine solche Veränderung setzt einen gewissen autokratischen Willen oder ein förmliches Compromiß der Betheiligten voraus, — ist nicht zu ermitteln. Es muß vor dem 9. Jahrhun-dert und wahrscheinlich in Skandinavien geschehen sein, denn nur skandinavische Germanen haben sich dieses Alphabets bedient. In diesem Sinn ist es erlaubt, von einem älteren und jüngeren Runen¬ alphabet zu sprechen, nur muß man nicht übersehen, daß beide zeitweilig recht wohl neben einander bestanden haben können, wenn sich bisher auch keine äußeren Zeugnisse dafür gesunden haben. Ebenso darf man im Großen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/118>, abgerufen am 02.07.2024.