Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Sprache geschöpfte rationelle Beweise bestätigt und rectificirt werden. Sämmt¬
liche indogermanische Alphabete enthalten nämlich, wenn man sie auf ihr
wahres Verhältniß zu ihren speciellen Sprachen ansieht, eine Menge von
Bestandtheilen, die für diese selbst ganz unwesentlich, ja theilweise ihrer
Structur widersprechend sind. Das alles gehört aber gerade zum organischen
Gefüge des Semitischen. Sämmtliche indogermanische Alphabete setzen in
ihren Urgestalten eine Sprache als Grundlage voraus, in der nur Conso-
nanten als feststehende Sprachelemente, aber keine Vocale vorhanden waren.
Auch dies paßt nur für das Semitische, aber für keine der indogermanischen
Sprachen in keiner Periode. Denn alle zusammen besitzen sogar Wurzeln
d. h. vollständige Begriffswörter, die aus bloßen Vocalen bestehen. Auch
ist es unmöglich, daß irgend ein menschlicher Geist die Abstraetionskraft ge¬
habt haben sollte, aus dem verschlungenen Urwald indogermanischer Laut¬
bildung die einzelnen Grundtöne, eben die Buchstaben scharf und fest heraus
zu lösen, während es sich bei dem trockenen, festen Gerippe der semitischen
Wurzel- und Stammformen viel leichter thun läßt, obgleich hierzu noch im¬
mer die größte Gedankenthat in der ganzen Geistesgeschichte der Menschheit
nöthig war. Wo man sich diese buchstabenersindenden Ursemiten zu denken
habe, ob als Brüder und Vettern des Kadmus in Sidon und Tyrus, oder
in der ältesten Metropole der Bildung in Babylon, das kann noch Nie¬
mand annähernd bestimmen.

Für uns ist es einstweilen genug zu wissen, das kein deutsches Gehirn
im Stande gewesen ist, die Nunen zu erfinden, wie ja auch unsere heid¬
nischen Vorfahren in richtiger Bescheidenheit ihre Erfindung Niemand
anderem, als dem höchsten aller Götter, dem deutschen Wodea, dem nordischen
Odhin zuschrieben.

Aber wie ist dies semitische Alphabet unserem Alterthum zugekommen?
Die Antwort fällt noch heute sehr buntscheckig aus. Einige wollen die Ver¬
mittelung der Griechen, andere die der Römer, noch andere gar die der klein¬
asiatischen Culturvölker beanspruchen. Mit ihnen allen sind unsere Vorfahren
im intimen Handels- und Culturverkehr gestanden, und unmöglich wäre
nicht, daß sie, wie so vieles andere, auch die Buchstaben von ihnen auf¬
genommen hätten. Aber es müßte sehr frühe geschehen sein, denn schon in
dem ersten Jahrhundert war das Loosen mit Runen ein allgemein verbrei¬
teter Gebrauch, den Tacitus genügsam beschreibt. Einfacher bleibt wohl die
Annahme, daß wie die Sprache selbst so auch die Schrift schon von der ge¬
gemeinsamen Urheimath aller Indogermanen stamme. So lange wir uns
diese nach dem herkömmlichen Axiom, das eben keine bessere Begründung
wie jedes andere Vorurtheil aufweisen kann, weit hinten im Osten,
am Hindukusch oder Paropamisus denken oder vielmehr phantisiren, ist


Sprache geschöpfte rationelle Beweise bestätigt und rectificirt werden. Sämmt¬
liche indogermanische Alphabete enthalten nämlich, wenn man sie auf ihr
wahres Verhältniß zu ihren speciellen Sprachen ansieht, eine Menge von
Bestandtheilen, die für diese selbst ganz unwesentlich, ja theilweise ihrer
Structur widersprechend sind. Das alles gehört aber gerade zum organischen
Gefüge des Semitischen. Sämmtliche indogermanische Alphabete setzen in
ihren Urgestalten eine Sprache als Grundlage voraus, in der nur Conso-
nanten als feststehende Sprachelemente, aber keine Vocale vorhanden waren.
Auch dies paßt nur für das Semitische, aber für keine der indogermanischen
Sprachen in keiner Periode. Denn alle zusammen besitzen sogar Wurzeln
d. h. vollständige Begriffswörter, die aus bloßen Vocalen bestehen. Auch
ist es unmöglich, daß irgend ein menschlicher Geist die Abstraetionskraft ge¬
habt haben sollte, aus dem verschlungenen Urwald indogermanischer Laut¬
bildung die einzelnen Grundtöne, eben die Buchstaben scharf und fest heraus
zu lösen, während es sich bei dem trockenen, festen Gerippe der semitischen
Wurzel- und Stammformen viel leichter thun läßt, obgleich hierzu noch im¬
mer die größte Gedankenthat in der ganzen Geistesgeschichte der Menschheit
nöthig war. Wo man sich diese buchstabenersindenden Ursemiten zu denken
habe, ob als Brüder und Vettern des Kadmus in Sidon und Tyrus, oder
in der ältesten Metropole der Bildung in Babylon, das kann noch Nie¬
mand annähernd bestimmen.

Für uns ist es einstweilen genug zu wissen, das kein deutsches Gehirn
im Stande gewesen ist, die Nunen zu erfinden, wie ja auch unsere heid¬
nischen Vorfahren in richtiger Bescheidenheit ihre Erfindung Niemand
anderem, als dem höchsten aller Götter, dem deutschen Wodea, dem nordischen
Odhin zuschrieben.

Aber wie ist dies semitische Alphabet unserem Alterthum zugekommen?
Die Antwort fällt noch heute sehr buntscheckig aus. Einige wollen die Ver¬
mittelung der Griechen, andere die der Römer, noch andere gar die der klein¬
asiatischen Culturvölker beanspruchen. Mit ihnen allen sind unsere Vorfahren
im intimen Handels- und Culturverkehr gestanden, und unmöglich wäre
nicht, daß sie, wie so vieles andere, auch die Buchstaben von ihnen auf¬
genommen hätten. Aber es müßte sehr frühe geschehen sein, denn schon in
dem ersten Jahrhundert war das Loosen mit Runen ein allgemein verbrei¬
teter Gebrauch, den Tacitus genügsam beschreibt. Einfacher bleibt wohl die
Annahme, daß wie die Sprache selbst so auch die Schrift schon von der ge¬
gemeinsamen Urheimath aller Indogermanen stamme. So lange wir uns
diese nach dem herkömmlichen Axiom, das eben keine bessere Begründung
wie jedes andere Vorurtheil aufweisen kann, weit hinten im Osten,
am Hindukusch oder Paropamisus denken oder vielmehr phantisiren, ist


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0117" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/286829"/>
          <p xml:id="ID_296" prev="#ID_295"> Sprache geschöpfte rationelle Beweise bestätigt und rectificirt werden. Sämmt¬<lb/>
liche indogermanische Alphabete enthalten nämlich, wenn man sie auf ihr<lb/>
wahres Verhältniß zu ihren speciellen Sprachen ansieht, eine Menge von<lb/>
Bestandtheilen, die für diese selbst ganz unwesentlich, ja theilweise ihrer<lb/>
Structur widersprechend sind. Das alles gehört aber gerade zum organischen<lb/>
Gefüge des Semitischen. Sämmtliche indogermanische Alphabete setzen in<lb/>
ihren Urgestalten eine Sprache als Grundlage voraus, in der nur Conso-<lb/>
nanten als feststehende Sprachelemente, aber keine Vocale vorhanden waren.<lb/>
Auch dies paßt nur für das Semitische, aber für keine der indogermanischen<lb/>
Sprachen in keiner Periode. Denn alle zusammen besitzen sogar Wurzeln<lb/>
d. h. vollständige Begriffswörter, die aus bloßen Vocalen bestehen. Auch<lb/>
ist es unmöglich, daß irgend ein menschlicher Geist die Abstraetionskraft ge¬<lb/>
habt haben sollte, aus dem verschlungenen Urwald indogermanischer Laut¬<lb/>
bildung die einzelnen Grundtöne, eben die Buchstaben scharf und fest heraus<lb/>
zu lösen, während es sich bei dem trockenen, festen Gerippe der semitischen<lb/>
Wurzel- und Stammformen viel leichter thun läßt, obgleich hierzu noch im¬<lb/>
mer die größte Gedankenthat in der ganzen Geistesgeschichte der Menschheit<lb/>
nöthig war. Wo man sich diese buchstabenersindenden Ursemiten zu denken<lb/>
habe, ob als Brüder und Vettern des Kadmus in Sidon und Tyrus, oder<lb/>
in der ältesten Metropole der Bildung in Babylon, das kann noch Nie¬<lb/>
mand annähernd bestimmen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_297"> Für uns ist es einstweilen genug zu wissen, das kein deutsches Gehirn<lb/>
im Stande gewesen ist, die Nunen zu erfinden, wie ja auch unsere heid¬<lb/>
nischen Vorfahren in richtiger Bescheidenheit ihre Erfindung Niemand<lb/>
anderem, als dem höchsten aller Götter, dem deutschen Wodea, dem nordischen<lb/>
Odhin zuschrieben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_298" next="#ID_299"> Aber wie ist dies semitische Alphabet unserem Alterthum zugekommen?<lb/>
Die Antwort fällt noch heute sehr buntscheckig aus. Einige wollen die Ver¬<lb/>
mittelung der Griechen, andere die der Römer, noch andere gar die der klein¬<lb/>
asiatischen Culturvölker beanspruchen. Mit ihnen allen sind unsere Vorfahren<lb/>
im intimen Handels- und Culturverkehr gestanden, und unmöglich wäre<lb/>
nicht, daß sie, wie so vieles andere, auch die Buchstaben von ihnen auf¬<lb/>
genommen hätten. Aber es müßte sehr frühe geschehen sein, denn schon in<lb/>
dem ersten Jahrhundert war das Loosen mit Runen ein allgemein verbrei¬<lb/>
teter Gebrauch, den Tacitus genügsam beschreibt. Einfacher bleibt wohl die<lb/>
Annahme, daß wie die Sprache selbst so auch die Schrift schon von der ge¬<lb/>
gemeinsamen Urheimath aller Indogermanen stamme. So lange wir uns<lb/>
diese nach dem herkömmlichen Axiom, das eben keine bessere Begründung<lb/>
wie jedes andere Vorurtheil aufweisen kann, weit hinten im Osten,<lb/>
am Hindukusch oder Paropamisus denken oder vielmehr phantisiren, ist</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0117] Sprache geschöpfte rationelle Beweise bestätigt und rectificirt werden. Sämmt¬ liche indogermanische Alphabete enthalten nämlich, wenn man sie auf ihr wahres Verhältniß zu ihren speciellen Sprachen ansieht, eine Menge von Bestandtheilen, die für diese selbst ganz unwesentlich, ja theilweise ihrer Structur widersprechend sind. Das alles gehört aber gerade zum organischen Gefüge des Semitischen. Sämmtliche indogermanische Alphabete setzen in ihren Urgestalten eine Sprache als Grundlage voraus, in der nur Conso- nanten als feststehende Sprachelemente, aber keine Vocale vorhanden waren. Auch dies paßt nur für das Semitische, aber für keine der indogermanischen Sprachen in keiner Periode. Denn alle zusammen besitzen sogar Wurzeln d. h. vollständige Begriffswörter, die aus bloßen Vocalen bestehen. Auch ist es unmöglich, daß irgend ein menschlicher Geist die Abstraetionskraft ge¬ habt haben sollte, aus dem verschlungenen Urwald indogermanischer Laut¬ bildung die einzelnen Grundtöne, eben die Buchstaben scharf und fest heraus zu lösen, während es sich bei dem trockenen, festen Gerippe der semitischen Wurzel- und Stammformen viel leichter thun läßt, obgleich hierzu noch im¬ mer die größte Gedankenthat in der ganzen Geistesgeschichte der Menschheit nöthig war. Wo man sich diese buchstabenersindenden Ursemiten zu denken habe, ob als Brüder und Vettern des Kadmus in Sidon und Tyrus, oder in der ältesten Metropole der Bildung in Babylon, das kann noch Nie¬ mand annähernd bestimmen. Für uns ist es einstweilen genug zu wissen, das kein deutsches Gehirn im Stande gewesen ist, die Nunen zu erfinden, wie ja auch unsere heid¬ nischen Vorfahren in richtiger Bescheidenheit ihre Erfindung Niemand anderem, als dem höchsten aller Götter, dem deutschen Wodea, dem nordischen Odhin zuschrieben. Aber wie ist dies semitische Alphabet unserem Alterthum zugekommen? Die Antwort fällt noch heute sehr buntscheckig aus. Einige wollen die Ver¬ mittelung der Griechen, andere die der Römer, noch andere gar die der klein¬ asiatischen Culturvölker beanspruchen. Mit ihnen allen sind unsere Vorfahren im intimen Handels- und Culturverkehr gestanden, und unmöglich wäre nicht, daß sie, wie so vieles andere, auch die Buchstaben von ihnen auf¬ genommen hätten. Aber es müßte sehr frühe geschehen sein, denn schon in dem ersten Jahrhundert war das Loosen mit Runen ein allgemein verbrei¬ teter Gebrauch, den Tacitus genügsam beschreibt. Einfacher bleibt wohl die Annahme, daß wie die Sprache selbst so auch die Schrift schon von der ge¬ gemeinsamen Urheimath aller Indogermanen stamme. So lange wir uns diese nach dem herkömmlichen Axiom, das eben keine bessere Begründung wie jedes andere Vorurtheil aufweisen kann, weit hinten im Osten, am Hindukusch oder Paropamisus denken oder vielmehr phantisiren, ist

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/117
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/117>, abgerufen am 02.07.2024.