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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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schiedensten und entlegensten Theilen der von deutschen Völkern einst und
später bewohnten Länder eine im wesentlichen einheitliche Schrift gab, welche
zu den verschiedensten Zwecken oder vielmehr auf den verschiedenartigsten Gegen¬
ständen im Wesentlichen überall nach gleichen Grundsätzen angewendet wurde.
Bei allen Abweichungen im Einzelnen, wie sie die Unterschiede der Zeiten,
(worüber uns die Denkmäler selbst am meisten sagen, denn Niemand kann
ergründen, ob ein metallenes Gefäß 1500 oder 2600 Jahre in der Erde ge¬
legen), die Verschiedenheit des Landes -- (von Burgund bis zum Banat oder
zur Donaumündung ist einstweilen weit genug--) die Verschiedenartigkeit der
Stämme -- (es sind später Hochdeutsche, niederdeutsche, Ostdeutsche d. h.
gothisch-burgundische auf gleiche Weise vertreten, nur die eigentlichen Franken
fehlen bis jetzt --) nothwendig mit sich bringen mußte, namentlich wenn man
sich eine lebendige Vorstellung macht von der Tiefe und Allseitigkeit des
weltgeschichtlichen Auflösungsprozesses unseres Urvolks, den wir so schlankweg
Völkerwanderung nennen, -- bleibt wie überall und in allen Evolutionen des
deutschen Wesens von der Urzeit bis jetzt die strenge Identität, das feste
Lebensband, das auch das Schriftenthum unseres Volkes trotz seiner Zer¬
splitterung vor einer Versplitterung bewahrte, im höchsten Grade merk¬
würdig.

Alle diese bis jetzt entdeckten Runen gehören, dieß steht gleichfalls fest,
der heidnischen Zeit unseres Volkes an: damit ist eine gewisse, aber freilich
sehr allgemeine und schwere chronologische Bestimmung gewonnen. Sie ist
indessen negativ doch von großem Belange, denn es folgt schon daraus --
aber nicht daraus allein -- unumstößlich, daß auch ihre möglichst jüngsten
Denkmäler noch älter sein müssen als die ältesten in jenem eigentlich skan¬
dinavischen Alphabet der 16 Runen. Selbst die stärkste Phantasie der Dänen
hat es nicht gewagt, irgend ein Denkmal dieser letzten Art sür älter als das
9. Jahrhundert auszugeben und die ältesten auch für andere wissenschaftliche
Gewissen mit einiger Sicherheit chronologisch zu fixirenden stammen aus dem
Ende des 9. und Anfang des 10. Jahrhunderts. Damit ist ausgesprochen, daß
das ausführliche Runenalphabet in seiner Anwendung nur aus den älteren
Denkmälern, das kürzere nur auf den jüngeren sich findet, aber es ist streng
genommen noch nicht bewiesen, daß das eine oder das andere auch seiner
Entstehung nach älter oder jünger sei.

Die überwiegende Anzahl aller dieser älteren Runen gehört, wie die
der Goldbracteaten, einer Sprache oder einer Sprachengruppe an, deren völlige
Verschiedenheit von der skandinavischen und Zugehörigkeit zu der kontinenta¬
len nur derjenige leugnen kann, sür den, wie freilich für die meisten skan¬
dinavischen und englischen Antiquare, Jacob Grimm seine Grammatik niemals
geschrieben hat, jenes Buch, das ein Engländer eine der bewunderungswür-


schiedensten und entlegensten Theilen der von deutschen Völkern einst und
später bewohnten Länder eine im wesentlichen einheitliche Schrift gab, welche
zu den verschiedensten Zwecken oder vielmehr auf den verschiedenartigsten Gegen¬
ständen im Wesentlichen überall nach gleichen Grundsätzen angewendet wurde.
Bei allen Abweichungen im Einzelnen, wie sie die Unterschiede der Zeiten,
(worüber uns die Denkmäler selbst am meisten sagen, denn Niemand kann
ergründen, ob ein metallenes Gefäß 1500 oder 2600 Jahre in der Erde ge¬
legen), die Verschiedenheit des Landes — (von Burgund bis zum Banat oder
zur Donaumündung ist einstweilen weit genug—) die Verschiedenartigkeit der
Stämme — (es sind später Hochdeutsche, niederdeutsche, Ostdeutsche d. h.
gothisch-burgundische auf gleiche Weise vertreten, nur die eigentlichen Franken
fehlen bis jetzt —) nothwendig mit sich bringen mußte, namentlich wenn man
sich eine lebendige Vorstellung macht von der Tiefe und Allseitigkeit des
weltgeschichtlichen Auflösungsprozesses unseres Urvolks, den wir so schlankweg
Völkerwanderung nennen, — bleibt wie überall und in allen Evolutionen des
deutschen Wesens von der Urzeit bis jetzt die strenge Identität, das feste
Lebensband, das auch das Schriftenthum unseres Volkes trotz seiner Zer¬
splitterung vor einer Versplitterung bewahrte, im höchsten Grade merk¬
würdig.

Alle diese bis jetzt entdeckten Runen gehören, dieß steht gleichfalls fest,
der heidnischen Zeit unseres Volkes an: damit ist eine gewisse, aber freilich
sehr allgemeine und schwere chronologische Bestimmung gewonnen. Sie ist
indessen negativ doch von großem Belange, denn es folgt schon daraus —
aber nicht daraus allein — unumstößlich, daß auch ihre möglichst jüngsten
Denkmäler noch älter sein müssen als die ältesten in jenem eigentlich skan¬
dinavischen Alphabet der 16 Runen. Selbst die stärkste Phantasie der Dänen
hat es nicht gewagt, irgend ein Denkmal dieser letzten Art sür älter als das
9. Jahrhundert auszugeben und die ältesten auch für andere wissenschaftliche
Gewissen mit einiger Sicherheit chronologisch zu fixirenden stammen aus dem
Ende des 9. und Anfang des 10. Jahrhunderts. Damit ist ausgesprochen, daß
das ausführliche Runenalphabet in seiner Anwendung nur aus den älteren
Denkmälern, das kürzere nur auf den jüngeren sich findet, aber es ist streng
genommen noch nicht bewiesen, daß das eine oder das andere auch seiner
Entstehung nach älter oder jünger sei.

Die überwiegende Anzahl aller dieser älteren Runen gehört, wie die
der Goldbracteaten, einer Sprache oder einer Sprachengruppe an, deren völlige
Verschiedenheit von der skandinavischen und Zugehörigkeit zu der kontinenta¬
len nur derjenige leugnen kann, sür den, wie freilich für die meisten skan¬
dinavischen und englischen Antiquare, Jacob Grimm seine Grammatik niemals
geschrieben hat, jenes Buch, das ein Engländer eine der bewunderungswür-


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[0112] schiedensten und entlegensten Theilen der von deutschen Völkern einst und später bewohnten Länder eine im wesentlichen einheitliche Schrift gab, welche zu den verschiedensten Zwecken oder vielmehr auf den verschiedenartigsten Gegen¬ ständen im Wesentlichen überall nach gleichen Grundsätzen angewendet wurde. Bei allen Abweichungen im Einzelnen, wie sie die Unterschiede der Zeiten, (worüber uns die Denkmäler selbst am meisten sagen, denn Niemand kann ergründen, ob ein metallenes Gefäß 1500 oder 2600 Jahre in der Erde ge¬ legen), die Verschiedenheit des Landes — (von Burgund bis zum Banat oder zur Donaumündung ist einstweilen weit genug—) die Verschiedenartigkeit der Stämme — (es sind später Hochdeutsche, niederdeutsche, Ostdeutsche d. h. gothisch-burgundische auf gleiche Weise vertreten, nur die eigentlichen Franken fehlen bis jetzt —) nothwendig mit sich bringen mußte, namentlich wenn man sich eine lebendige Vorstellung macht von der Tiefe und Allseitigkeit des weltgeschichtlichen Auflösungsprozesses unseres Urvolks, den wir so schlankweg Völkerwanderung nennen, — bleibt wie überall und in allen Evolutionen des deutschen Wesens von der Urzeit bis jetzt die strenge Identität, das feste Lebensband, das auch das Schriftenthum unseres Volkes trotz seiner Zer¬ splitterung vor einer Versplitterung bewahrte, im höchsten Grade merk¬ würdig. Alle diese bis jetzt entdeckten Runen gehören, dieß steht gleichfalls fest, der heidnischen Zeit unseres Volkes an: damit ist eine gewisse, aber freilich sehr allgemeine und schwere chronologische Bestimmung gewonnen. Sie ist indessen negativ doch von großem Belange, denn es folgt schon daraus — aber nicht daraus allein — unumstößlich, daß auch ihre möglichst jüngsten Denkmäler noch älter sein müssen als die ältesten in jenem eigentlich skan¬ dinavischen Alphabet der 16 Runen. Selbst die stärkste Phantasie der Dänen hat es nicht gewagt, irgend ein Denkmal dieser letzten Art sür älter als das 9. Jahrhundert auszugeben und die ältesten auch für andere wissenschaftliche Gewissen mit einiger Sicherheit chronologisch zu fixirenden stammen aus dem Ende des 9. und Anfang des 10. Jahrhunderts. Damit ist ausgesprochen, daß das ausführliche Runenalphabet in seiner Anwendung nur aus den älteren Denkmälern, das kürzere nur auf den jüngeren sich findet, aber es ist streng genommen noch nicht bewiesen, daß das eine oder das andere auch seiner Entstehung nach älter oder jünger sei. Die überwiegende Anzahl aller dieser älteren Runen gehört, wie die der Goldbracteaten, einer Sprache oder einer Sprachengruppe an, deren völlige Verschiedenheit von der skandinavischen und Zugehörigkeit zu der kontinenta¬ len nur derjenige leugnen kann, sür den, wie freilich für die meisten skan¬ dinavischen und englischen Antiquare, Jacob Grimm seine Grammatik niemals geschrieben hat, jenes Buch, das ein Engländer eine der bewunderungswür-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/112>, abgerufen am 02.07.2024.