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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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während man für die angelsächsische Literatur- und Volkssprache das richtige
Sachverhältniß allmählich zu begreifen sich herbeiläßt. Denn schon der Titel
spiegelt dieselbe Confusion, welche einst Thorkelins Beowulf zur Schau trug.
Zur Entschuldigung nicht, aber zur Erklärung läßt sich nun sagen, daß sich
allerdings auf englischem Boden eine große Menge von Runensteinen fin¬
det, welche unzweifelhaft skandinavischen Ursprungs sind. Sie gehören jenen
Seeräubern und Mordbrennern an, welche vom 9. bis 14. Jahrhundert die
Küsten und das Innere von England durchschwärmten. Sie haben bekannt¬
lich hie und da auch einmal eine dauernde Ansiedelung in England wie in
Irland/Schottland oder in der Normandie versucht und dort wie in der
Heimath ihre Grabstätten mit Gedenksteinen in ihrer Sprache bezeichnet.

So dauerte es länger als wir hätten erwarten sollen, bis die rechte von
Wilhelm Grimm gewiesene Bahn auch wirklich betreten wurde. Neben der
anmaßlichen und hochmüthigen Miene der Unfehlbarkeit bei den angeb¬
lichen Kennern, welche immerund allenthalben, namentlich aber in Deutsch¬
land zu imponiren pflegt, kam auch noch etwas anderes in Betracht, um
einen lebhafteren Fortschritt zu hindern. Es gab bis in die neueste Zeit sehr
wenig authentische Denkmale irgend welcher Art, auf denen sich jene aus¬
führlicheren Alphabete, oder eins von ihnen, angewandt zeigten. Aus den
bloßen Alphabeten mit nebengesetzten Buchstabennamen, wie sie angelsächsische
und deutsche Handschriften gewährten, war nicht viel oder einstweilen gar
nichts zu entnehmen. Das schlimmste war, daß sich in Deutschland oder im
Bereiche derjenigen Länder, in welchen meist Deutsche -- Gothen, Burgunder,
Vandalen, Gepiden und wie die anderen großen spurlos zu Grabe ge¬
gangenen Stämme heißen mögen -- gewohnt hatten, kein einziges Runen¬
denkmal finden wollte. Selbstverständlich erhielt dadurch der eitele Wahn
des Skandinavismus oder der Kopenhagener Clique der "^utigimirss du
Nord" wie sie sich mit gewohnter Bescheidenheit tauften, stets neue Nahrung.
Im Norden wurden von Jahr zu Jahr immer häufiger Runen entdeckt und
zwar auch allmählich immer mehr solche, auf denen das ausführlichere Alphabet
angewandt war, in Deutschland wollte sich nichts dergleichen finden, und so
ließ sich wenigstens in den Augen des gewöhnlichen Haufens nicht viel gegen
den mit immer neuen Formeln wieder aufgewärmten Schluß einwenden, daß
alle Runen sowohl nach Schrift wie Sprache nordischen Ursprungs seien. Erst
in den letzten Decennien ist es gelungen, auch außerhalb des skandinavischen
Bodens und Englands," das aus den vorhin dargestellten Motiven einstweilen
nichts über die ganze Frage entschied, immer zahlreichere und in ihrer Aecht-
heit unantastbare Funde zu machen. Schon länger kannte man eine Anzahl
von Goldmünzen, wie man sie einstweilen nennen möge, von rohesten Ge¬
präge, als Brakteaten d. h. bloß auf einer Seite mit Bildwerk und Schrift


während man für die angelsächsische Literatur- und Volkssprache das richtige
Sachverhältniß allmählich zu begreifen sich herbeiläßt. Denn schon der Titel
spiegelt dieselbe Confusion, welche einst Thorkelins Beowulf zur Schau trug.
Zur Entschuldigung nicht, aber zur Erklärung läßt sich nun sagen, daß sich
allerdings auf englischem Boden eine große Menge von Runensteinen fin¬
det, welche unzweifelhaft skandinavischen Ursprungs sind. Sie gehören jenen
Seeräubern und Mordbrennern an, welche vom 9. bis 14. Jahrhundert die
Küsten und das Innere von England durchschwärmten. Sie haben bekannt¬
lich hie und da auch einmal eine dauernde Ansiedelung in England wie in
Irland/Schottland oder in der Normandie versucht und dort wie in der
Heimath ihre Grabstätten mit Gedenksteinen in ihrer Sprache bezeichnet.

So dauerte es länger als wir hätten erwarten sollen, bis die rechte von
Wilhelm Grimm gewiesene Bahn auch wirklich betreten wurde. Neben der
anmaßlichen und hochmüthigen Miene der Unfehlbarkeit bei den angeb¬
lichen Kennern, welche immerund allenthalben, namentlich aber in Deutsch¬
land zu imponiren pflegt, kam auch noch etwas anderes in Betracht, um
einen lebhafteren Fortschritt zu hindern. Es gab bis in die neueste Zeit sehr
wenig authentische Denkmale irgend welcher Art, auf denen sich jene aus¬
führlicheren Alphabete, oder eins von ihnen, angewandt zeigten. Aus den
bloßen Alphabeten mit nebengesetzten Buchstabennamen, wie sie angelsächsische
und deutsche Handschriften gewährten, war nicht viel oder einstweilen gar
nichts zu entnehmen. Das schlimmste war, daß sich in Deutschland oder im
Bereiche derjenigen Länder, in welchen meist Deutsche — Gothen, Burgunder,
Vandalen, Gepiden und wie die anderen großen spurlos zu Grabe ge¬
gangenen Stämme heißen mögen — gewohnt hatten, kein einziges Runen¬
denkmal finden wollte. Selbstverständlich erhielt dadurch der eitele Wahn
des Skandinavismus oder der Kopenhagener Clique der „^utigimirss du
Nord" wie sie sich mit gewohnter Bescheidenheit tauften, stets neue Nahrung.
Im Norden wurden von Jahr zu Jahr immer häufiger Runen entdeckt und
zwar auch allmählich immer mehr solche, auf denen das ausführlichere Alphabet
angewandt war, in Deutschland wollte sich nichts dergleichen finden, und so
ließ sich wenigstens in den Augen des gewöhnlichen Haufens nicht viel gegen
den mit immer neuen Formeln wieder aufgewärmten Schluß einwenden, daß
alle Runen sowohl nach Schrift wie Sprache nordischen Ursprungs seien. Erst
in den letzten Decennien ist es gelungen, auch außerhalb des skandinavischen
Bodens und Englands," das aus den vorhin dargestellten Motiven einstweilen
nichts über die ganze Frage entschied, immer zahlreichere und in ihrer Aecht-
heit unantastbare Funde zu machen. Schon länger kannte man eine Anzahl
von Goldmünzen, wie man sie einstweilen nennen möge, von rohesten Ge¬
präge, als Brakteaten d. h. bloß auf einer Seite mit Bildwerk und Schrift


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/109>, abgerufen am 02.07.2024.