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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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zum heutigen Tage ist -- man sollte es kaum für möglich halten--diese abge¬
schmackte Fälschung des wissenschaftlichen Thatbestandes, die alle Grundsätze
des Denkens und Forschens verhöhnt, noch nicht ganz überwunden, nicht ein¬
mal in England selbst, geschweige denn unter den patriotischen Skandinaviern.
Noch immer wird versucht, wenigstens eine spätere engere Beziehung des
Angelsächsischen zum Dänischen d. h. zu der Altisländischen Büchersprache,
die während einiger Jahrhunderte auch auf den dänischen Inseln als Schrift¬
sprache angewandt wurde, nachzuweisen. Besonders in den letzten Decennien,
wo unsere deutschen schüchternen Versuche, uns Recht gegen unsere frechen
und bösartigen Vettern nördlich von der Königsau zu verschaffen, in Eng¬
land so sehr viel böses Blut erregten, ist Thorkelin und seines Gleichen dort
beinahe wieder zu Ehren gekommen. Doch hat auch auf diesem abgelegenen
Gebiete der Wissenschaft die neueste Wendung im Großleben der deutschen Nation
den Horizont etwas geklärt und man bequemt sich in England, wenn auch
mit unterdrücktem Aerger wieder zu der einst schon allgemein giltigen An¬
sicht, daß weder der Ursprung des englischen Volkes noch der der englischen
Sprache aus dem skandinavisch-germanischen Element abzuleiten sei, sondern
daß beide, wie anderswo jedes Kind weiß, aus Deutschland importirt seien.

Wo man an einer in sich so nichtigen oder geradezu lächerlichen Fiction
festhielt, mußte man natürlicherweise auch in allen und jeden Runendenk¬
mälern, welche sich des ausführlicheren Alphabets bedienten, nordische Sprache
wittern. Der Schluß, wodurch man dies zu begründen suchte, ist freilich von
kindlicher Naivetät. Man sagte, da diese ausführlicheren Alphabete alle aus
angelsächsischer Quelle stammten, so würden sie auch unzweifelhaft dieselbe
Sprache wie in ihrer Heimath auszudrücken berufen gewesen sein. Nun ver¬
stehe es sich aber von selbst, daß alle Nuneninschriften auf Steinen, Waffen
und Geräthen, die sich in England gefunden, von Skandinaviern herrührten,
folglich auch in skandinavischer Sprache verfaßt seien. Höchstens hätten sich
diese Skandinavier in etwas dem Loealdialect anbequemt, also das famose
"Anglodänisch" gesprochen und geschrieben, und gerade daraus erkläre sich
auch, weswegen sie zu ihrem echten Alphabete, jenem kürzeren von 16 Buch¬
staben, wie es im Norden allgemein herrschte, noch ein paar Zeichen mehr
willkürlich zugesetzt hätten.

Es ist eine beinahe unbegreifliche, aber doch jeden Tag von Neuem be¬
stätigte Thatsache, daß man sich im Norden mit einem so erbärmlichen Flick¬
werk von Halbwahrheiten und großen Aufschlüssen bis heute im wesentlichen
begnügt und alle neuen Runenfunde auf dieses Prokrustesbett zu zwängen
versucht. Auch in England hat man sich, wie das Prachtwerk von George
Stephens zeigt, dessen 1. Band 1865 erschienen ist, 01ä UortKern
Il.uiüo Nonuiusnts ot Leanüing>via ann LuZIanä, noch nicht daran emancipirt.


zum heutigen Tage ist — man sollte es kaum für möglich halten—diese abge¬
schmackte Fälschung des wissenschaftlichen Thatbestandes, die alle Grundsätze
des Denkens und Forschens verhöhnt, noch nicht ganz überwunden, nicht ein¬
mal in England selbst, geschweige denn unter den patriotischen Skandinaviern.
Noch immer wird versucht, wenigstens eine spätere engere Beziehung des
Angelsächsischen zum Dänischen d. h. zu der Altisländischen Büchersprache,
die während einiger Jahrhunderte auch auf den dänischen Inseln als Schrift¬
sprache angewandt wurde, nachzuweisen. Besonders in den letzten Decennien,
wo unsere deutschen schüchternen Versuche, uns Recht gegen unsere frechen
und bösartigen Vettern nördlich von der Königsau zu verschaffen, in Eng¬
land so sehr viel böses Blut erregten, ist Thorkelin und seines Gleichen dort
beinahe wieder zu Ehren gekommen. Doch hat auch auf diesem abgelegenen
Gebiete der Wissenschaft die neueste Wendung im Großleben der deutschen Nation
den Horizont etwas geklärt und man bequemt sich in England, wenn auch
mit unterdrücktem Aerger wieder zu der einst schon allgemein giltigen An¬
sicht, daß weder der Ursprung des englischen Volkes noch der der englischen
Sprache aus dem skandinavisch-germanischen Element abzuleiten sei, sondern
daß beide, wie anderswo jedes Kind weiß, aus Deutschland importirt seien.

Wo man an einer in sich so nichtigen oder geradezu lächerlichen Fiction
festhielt, mußte man natürlicherweise auch in allen und jeden Runendenk¬
mälern, welche sich des ausführlicheren Alphabets bedienten, nordische Sprache
wittern. Der Schluß, wodurch man dies zu begründen suchte, ist freilich von
kindlicher Naivetät. Man sagte, da diese ausführlicheren Alphabete alle aus
angelsächsischer Quelle stammten, so würden sie auch unzweifelhaft dieselbe
Sprache wie in ihrer Heimath auszudrücken berufen gewesen sein. Nun ver¬
stehe es sich aber von selbst, daß alle Nuneninschriften auf Steinen, Waffen
und Geräthen, die sich in England gefunden, von Skandinaviern herrührten,
folglich auch in skandinavischer Sprache verfaßt seien. Höchstens hätten sich
diese Skandinavier in etwas dem Loealdialect anbequemt, also das famose
„Anglodänisch" gesprochen und geschrieben, und gerade daraus erkläre sich
auch, weswegen sie zu ihrem echten Alphabete, jenem kürzeren von 16 Buch¬
staben, wie es im Norden allgemein herrschte, noch ein paar Zeichen mehr
willkürlich zugesetzt hätten.

Es ist eine beinahe unbegreifliche, aber doch jeden Tag von Neuem be¬
stätigte Thatsache, daß man sich im Norden mit einem so erbärmlichen Flick¬
werk von Halbwahrheiten und großen Aufschlüssen bis heute im wesentlichen
begnügt und alle neuen Runenfunde auf dieses Prokrustesbett zu zwängen
versucht. Auch in England hat man sich, wie das Prachtwerk von George
Stephens zeigt, dessen 1. Band 1865 erschienen ist, 01ä UortKern
Il.uiüo Nonuiusnts ot Leanüing>via ann LuZIanä, noch nicht daran emancipirt.


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[0108] zum heutigen Tage ist — man sollte es kaum für möglich halten—diese abge¬ schmackte Fälschung des wissenschaftlichen Thatbestandes, die alle Grundsätze des Denkens und Forschens verhöhnt, noch nicht ganz überwunden, nicht ein¬ mal in England selbst, geschweige denn unter den patriotischen Skandinaviern. Noch immer wird versucht, wenigstens eine spätere engere Beziehung des Angelsächsischen zum Dänischen d. h. zu der Altisländischen Büchersprache, die während einiger Jahrhunderte auch auf den dänischen Inseln als Schrift¬ sprache angewandt wurde, nachzuweisen. Besonders in den letzten Decennien, wo unsere deutschen schüchternen Versuche, uns Recht gegen unsere frechen und bösartigen Vettern nördlich von der Königsau zu verschaffen, in Eng¬ land so sehr viel böses Blut erregten, ist Thorkelin und seines Gleichen dort beinahe wieder zu Ehren gekommen. Doch hat auch auf diesem abgelegenen Gebiete der Wissenschaft die neueste Wendung im Großleben der deutschen Nation den Horizont etwas geklärt und man bequemt sich in England, wenn auch mit unterdrücktem Aerger wieder zu der einst schon allgemein giltigen An¬ sicht, daß weder der Ursprung des englischen Volkes noch der der englischen Sprache aus dem skandinavisch-germanischen Element abzuleiten sei, sondern daß beide, wie anderswo jedes Kind weiß, aus Deutschland importirt seien. Wo man an einer in sich so nichtigen oder geradezu lächerlichen Fiction festhielt, mußte man natürlicherweise auch in allen und jeden Runendenk¬ mälern, welche sich des ausführlicheren Alphabets bedienten, nordische Sprache wittern. Der Schluß, wodurch man dies zu begründen suchte, ist freilich von kindlicher Naivetät. Man sagte, da diese ausführlicheren Alphabete alle aus angelsächsischer Quelle stammten, so würden sie auch unzweifelhaft dieselbe Sprache wie in ihrer Heimath auszudrücken berufen gewesen sein. Nun ver¬ stehe es sich aber von selbst, daß alle Nuneninschriften auf Steinen, Waffen und Geräthen, die sich in England gefunden, von Skandinaviern herrührten, folglich auch in skandinavischer Sprache verfaßt seien. Höchstens hätten sich diese Skandinavier in etwas dem Loealdialect anbequemt, also das famose „Anglodänisch" gesprochen und geschrieben, und gerade daraus erkläre sich auch, weswegen sie zu ihrem echten Alphabete, jenem kürzeren von 16 Buch¬ staben, wie es im Norden allgemein herrschte, noch ein paar Zeichen mehr willkürlich zugesetzt hätten. Es ist eine beinahe unbegreifliche, aber doch jeden Tag von Neuem be¬ stätigte Thatsache, daß man sich im Norden mit einem so erbärmlichen Flick¬ werk von Halbwahrheiten und großen Aufschlüssen bis heute im wesentlichen begnügt und alle neuen Runenfunde auf dieses Prokrustesbett zu zwängen versucht. Auch in England hat man sich, wie das Prachtwerk von George Stephens zeigt, dessen 1. Band 1865 erschienen ist, 01ä UortKern Il.uiüo Nonuiusnts ot Leanüing>via ann LuZIanä, noch nicht daran emancipirt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/108>, abgerufen am 02.07.2024.