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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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würdig, mit welcher Selbstbeschränkung und Selbstentäußerung ein so reich
angelegter Geist es sich gefallen ließ, auf ein Feld hinabzusteigen, das
selbst im besten Falle nur sehr mäßige Ernte verhieß. . Der ungestüme ältere
Bruder wäre, wie er es ja selbst oft, und zuletzt in dem herrlichen Nachruf
auf den vorangegangenen Wilhelm aussprach, dessen nicht fähig gewesen.
Wenn er arbeitete, wollte er auch sehen, was herauskam. Großartig, ja
einzig wie seine Kraft war, sollten auch die Ergebnisse sein, und sie sind es
ohne Zweifel; aber der genügsamere Meister soll daneben so wenig unter¬
schätzt werden, wie jene griechischen Bildner, welche die Wunder ihrer genialen
Kunstbegabung auf Gemmen von oft nur wenigen Linien im Durchmesser
einzuritzen verstanden, neben einem Phidias und Praxiteles unterschätzt wer¬
den dürfen.

Vieles an dem Buche über deutsche Runen ist jetzt antiquirt. Das
Material, welches Wilhelm Grimm, benutzen durfte, hat sich zum Theil als
abgeschmackte Fiction oder zum anderen Theil als unzuverlässig erwiesen.
Die von ihm versuchten Erklärungen werden jetzt meist ignorirt, nicht als
ob wirklich absolut richtige gefunden wären, sondern weil es leicht ist, ihre
Mängel zu erkennen und Niemand so leicht die Selbstentäußerung des
Meisters besitzt, sich damit einstweilen zu begnügen. Jeder fühlt sich viel¬
mehr moralisch verpflichtet, etwas "besseres" als positive Zugabe zu bringen,
schon weil er es mit der liebenswürdigen Selbstschätzung nicht vereinbaren kann,
zu begreifen, daß die Wissenschaft bereits an dem alten Schütte genug hat
und nicht noch neuer Zufuhr bedarf. Aber in der Hauptsache ist alles richtig
gesehen, namentlich was das Verhältniß der beiden Gruppen von Runen¬
alphabeten zu einander betrifft. Wilhelm Grimm erkannte die ursprüngliche
Identität beider sowie ihren Ausgang von einer gemeinsamen Grundlage, und
das war vorerst schon genug. Denn bis dahin galt es als ausgemacht, daß
das kürzere das ältere oder ursprünglichere sei -- einfach deshalb, weil man
es für natürlicher hielt, daß neue Zeichen hinzuerfunden, als daß vorhandene
später weggelassen worden seien. Er sprach es ferner mit Bestimmtheit aus,
daß die Denkmäler des kürzeren Alphabets, soweit sie wirklich untadelhaft
erklärt seien, der altnordischen Literatur angehörten, aber auch, daß jene aus¬
führlicheren Alphabete keineswegs in Skandinavien ihre Heimath zu haben
brauchten. Und in diesem Sinne erhielt der Titel seines Buches noch eine
besondere, vielleicht gar nicht beabsichtigte Prägnanz. Denn wahrscheinlich ist
es nicht anders gemeint wie seines Bruders "deutsche Grammatik": es sollte
damit ein einheimisches Wort an die Stelle des zopsiggelehrten Germanisch
gesetzt werden, und dafür bot sich, wie in der Vorrede zu eben dieser deut¬
schen Grammatik so schön und sinnig auseinandergesetzt ist, von selbst das
Wort "Deutsch". Aber indem Wilhelm Grimm darauf hindeutete, daß wir


würdig, mit welcher Selbstbeschränkung und Selbstentäußerung ein so reich
angelegter Geist es sich gefallen ließ, auf ein Feld hinabzusteigen, das
selbst im besten Falle nur sehr mäßige Ernte verhieß. . Der ungestüme ältere
Bruder wäre, wie er es ja selbst oft, und zuletzt in dem herrlichen Nachruf
auf den vorangegangenen Wilhelm aussprach, dessen nicht fähig gewesen.
Wenn er arbeitete, wollte er auch sehen, was herauskam. Großartig, ja
einzig wie seine Kraft war, sollten auch die Ergebnisse sein, und sie sind es
ohne Zweifel; aber der genügsamere Meister soll daneben so wenig unter¬
schätzt werden, wie jene griechischen Bildner, welche die Wunder ihrer genialen
Kunstbegabung auf Gemmen von oft nur wenigen Linien im Durchmesser
einzuritzen verstanden, neben einem Phidias und Praxiteles unterschätzt wer¬
den dürfen.

Vieles an dem Buche über deutsche Runen ist jetzt antiquirt. Das
Material, welches Wilhelm Grimm, benutzen durfte, hat sich zum Theil als
abgeschmackte Fiction oder zum anderen Theil als unzuverlässig erwiesen.
Die von ihm versuchten Erklärungen werden jetzt meist ignorirt, nicht als
ob wirklich absolut richtige gefunden wären, sondern weil es leicht ist, ihre
Mängel zu erkennen und Niemand so leicht die Selbstentäußerung des
Meisters besitzt, sich damit einstweilen zu begnügen. Jeder fühlt sich viel¬
mehr moralisch verpflichtet, etwas „besseres" als positive Zugabe zu bringen,
schon weil er es mit der liebenswürdigen Selbstschätzung nicht vereinbaren kann,
zu begreifen, daß die Wissenschaft bereits an dem alten Schütte genug hat
und nicht noch neuer Zufuhr bedarf. Aber in der Hauptsache ist alles richtig
gesehen, namentlich was das Verhältniß der beiden Gruppen von Runen¬
alphabeten zu einander betrifft. Wilhelm Grimm erkannte die ursprüngliche
Identität beider sowie ihren Ausgang von einer gemeinsamen Grundlage, und
das war vorerst schon genug. Denn bis dahin galt es als ausgemacht, daß
das kürzere das ältere oder ursprünglichere sei — einfach deshalb, weil man
es für natürlicher hielt, daß neue Zeichen hinzuerfunden, als daß vorhandene
später weggelassen worden seien. Er sprach es ferner mit Bestimmtheit aus,
daß die Denkmäler des kürzeren Alphabets, soweit sie wirklich untadelhaft
erklärt seien, der altnordischen Literatur angehörten, aber auch, daß jene aus¬
führlicheren Alphabete keineswegs in Skandinavien ihre Heimath zu haben
brauchten. Und in diesem Sinne erhielt der Titel seines Buches noch eine
besondere, vielleicht gar nicht beabsichtigte Prägnanz. Denn wahrscheinlich ist
es nicht anders gemeint wie seines Bruders „deutsche Grammatik": es sollte
damit ein einheimisches Wort an die Stelle des zopsiggelehrten Germanisch
gesetzt werden, und dafür bot sich, wie in der Vorrede zu eben dieser deut¬
schen Grammatik so schön und sinnig auseinandergesetzt ist, von selbst das
Wort „Deutsch". Aber indem Wilhelm Grimm darauf hindeutete, daß wir


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/106>, abgerufen am 02.07.2024.