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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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im Gegenstande selbst liegenden Grenze den Flug ihrer Phantasie beschrän¬
ken ließen, so erweitern, daß das ganze Gebäude der Runenlehre zusammen¬
zustürzen drohte. Ein nüchterner und gewissenhafter Alterthumsforscher in den
ersten Decennien unseres Jahrhunderts durfte, ohne seinerseits etwas bewußt
paradoxes sagen zu wollen, füglich wagen, alle Runen sammt und sonders
für bloßes absichtliches Machwerk, für einen gelehrten Betrug zu erklären.
Aus dem Stande der damaligen Wissenschaft mußte man ihm die Wider¬
legung schuldig bleiben, wenn man in dem blinden Eifer, in den man hin¬
eingerathen war, überhaupt noch die Fähigkeit behalten hatte, solche Ein¬
würfe zu verstehen. Wo damals irgend in Europa ein muthmaßlich mehrere
hundert oder gar tausend Jahre alter Stein oder ein rohes Erzeugniß früh¬
mittelalterlichen plastischen Dranges auftauchte, das an irgend einer Stelle
irgend welche Kritzel und Einkerbungen zeigte, da hatte man auch schon
wieder eine neue Runeninschrift entdeckt, die von dem Entdecker und seinen
guten Freunden flugs gelesen und erklärt, von allen anderen dagegen aufs
unbarmherzigste zerpflückt und zerrissen, natürlich aber von jedem einzelnen
wieder in seiner Weise erklärt wurde -- bis auch nicht ein Buchstabe des
andrerseits als unfehlbar verkündeten Ergebnisses übrig blieb. Da man
nun noch gar auf die ingeniöse Entdeckung gestoßen war, daß es Runen
geben könne, welche blos aus einzelnen willkürlich gestellten Strichen bestan-,
den -- also eigentlich Runen, die keine Runen sind, so war es nicht wohl
möglich, daß die Confusion noch ärger werden konnte.

Es ist das Verdienst eines deutschen Forschers, diesem Unfug ein Ende
gemacht zu haben, d. h. was man Ende machen im höheren Sinne nennt.
Denn jeder innerlich besiegte Irrthum hat noch immer das Vermögen, sein
äußeres Dasein fortzufristen und sich je nach Gelegenheit noch anmaßlicher
als zuvor, wo er in seiner Naivetät vegetirte, zu gebärden. Im Jahre
1826 erschien in sehr unscheinbarem Octav, auf sehr grauem Papier, mit
sehr altmodischen Lettern gedruckt, ein Buch mit dem gleichfalls sehr unschein¬
baren Titel "Ueber deutsche Runen" von Wilhelm Carl Grimm. Es war
die erste größere selbständige Arbeit, welche der an Jahren etwas jüngere,
an geistiger Potenz ebenbürtige, nur nach anderer Seite hin begabte Bruder
des Schöpfers der deutschen Grammatik, des damals schon als Meister in
seinem Fache anerkannten Jacob Grimm erscheinen ließ. Sie zeichnete sich
durch alle die dem Verfasser eigenthümlich gebliebenen Vorzüge aus, ein stilles,
liebevolles Versenken des Auges in den Gegenstand, eine unbegrenzte Hin-
gabe an das allertrockenste Detail, ein ruhiges und klares Urtheil, das in
der schonendsten Form allen bloßen Einbildungen und Hypothesen der anderen
nicht sowohl widerlegte als vielmehr wie Seifenblasen in der klaren glänzen¬
den Luft des Verstandes zerstieben ließ. Es bleibt für immer bewunderungs-


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im Gegenstande selbst liegenden Grenze den Flug ihrer Phantasie beschrän¬
ken ließen, so erweitern, daß das ganze Gebäude der Runenlehre zusammen¬
zustürzen drohte. Ein nüchterner und gewissenhafter Alterthumsforscher in den
ersten Decennien unseres Jahrhunderts durfte, ohne seinerseits etwas bewußt
paradoxes sagen zu wollen, füglich wagen, alle Runen sammt und sonders
für bloßes absichtliches Machwerk, für einen gelehrten Betrug zu erklären.
Aus dem Stande der damaligen Wissenschaft mußte man ihm die Wider¬
legung schuldig bleiben, wenn man in dem blinden Eifer, in den man hin¬
eingerathen war, überhaupt noch die Fähigkeit behalten hatte, solche Ein¬
würfe zu verstehen. Wo damals irgend in Europa ein muthmaßlich mehrere
hundert oder gar tausend Jahre alter Stein oder ein rohes Erzeugniß früh¬
mittelalterlichen plastischen Dranges auftauchte, das an irgend einer Stelle
irgend welche Kritzel und Einkerbungen zeigte, da hatte man auch schon
wieder eine neue Runeninschrift entdeckt, die von dem Entdecker und seinen
guten Freunden flugs gelesen und erklärt, von allen anderen dagegen aufs
unbarmherzigste zerpflückt und zerrissen, natürlich aber von jedem einzelnen
wieder in seiner Weise erklärt wurde — bis auch nicht ein Buchstabe des
andrerseits als unfehlbar verkündeten Ergebnisses übrig blieb. Da man
nun noch gar auf die ingeniöse Entdeckung gestoßen war, daß es Runen
geben könne, welche blos aus einzelnen willkürlich gestellten Strichen bestan-,
den — also eigentlich Runen, die keine Runen sind, so war es nicht wohl
möglich, daß die Confusion noch ärger werden konnte.

Es ist das Verdienst eines deutschen Forschers, diesem Unfug ein Ende
gemacht zu haben, d. h. was man Ende machen im höheren Sinne nennt.
Denn jeder innerlich besiegte Irrthum hat noch immer das Vermögen, sein
äußeres Dasein fortzufristen und sich je nach Gelegenheit noch anmaßlicher
als zuvor, wo er in seiner Naivetät vegetirte, zu gebärden. Im Jahre
1826 erschien in sehr unscheinbarem Octav, auf sehr grauem Papier, mit
sehr altmodischen Lettern gedruckt, ein Buch mit dem gleichfalls sehr unschein¬
baren Titel „Ueber deutsche Runen" von Wilhelm Carl Grimm. Es war
die erste größere selbständige Arbeit, welche der an Jahren etwas jüngere,
an geistiger Potenz ebenbürtige, nur nach anderer Seite hin begabte Bruder
des Schöpfers der deutschen Grammatik, des damals schon als Meister in
seinem Fache anerkannten Jacob Grimm erscheinen ließ. Sie zeichnete sich
durch alle die dem Verfasser eigenthümlich gebliebenen Vorzüge aus, ein stilles,
liebevolles Versenken des Auges in den Gegenstand, eine unbegrenzte Hin-
gabe an das allertrockenste Detail, ein ruhiges und klares Urtheil, das in
der schonendsten Form allen bloßen Einbildungen und Hypothesen der anderen
nicht sowohl widerlegte als vielmehr wie Seifenblasen in der klaren glänzen¬
den Luft des Verstandes zerstieben ließ. Es bleibt für immer bewunderungs-


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[0105] im Gegenstande selbst liegenden Grenze den Flug ihrer Phantasie beschrän¬ ken ließen, so erweitern, daß das ganze Gebäude der Runenlehre zusammen¬ zustürzen drohte. Ein nüchterner und gewissenhafter Alterthumsforscher in den ersten Decennien unseres Jahrhunderts durfte, ohne seinerseits etwas bewußt paradoxes sagen zu wollen, füglich wagen, alle Runen sammt und sonders für bloßes absichtliches Machwerk, für einen gelehrten Betrug zu erklären. Aus dem Stande der damaligen Wissenschaft mußte man ihm die Wider¬ legung schuldig bleiben, wenn man in dem blinden Eifer, in den man hin¬ eingerathen war, überhaupt noch die Fähigkeit behalten hatte, solche Ein¬ würfe zu verstehen. Wo damals irgend in Europa ein muthmaßlich mehrere hundert oder gar tausend Jahre alter Stein oder ein rohes Erzeugniß früh¬ mittelalterlichen plastischen Dranges auftauchte, das an irgend einer Stelle irgend welche Kritzel und Einkerbungen zeigte, da hatte man auch schon wieder eine neue Runeninschrift entdeckt, die von dem Entdecker und seinen guten Freunden flugs gelesen und erklärt, von allen anderen dagegen aufs unbarmherzigste zerpflückt und zerrissen, natürlich aber von jedem einzelnen wieder in seiner Weise erklärt wurde — bis auch nicht ein Buchstabe des andrerseits als unfehlbar verkündeten Ergebnisses übrig blieb. Da man nun noch gar auf die ingeniöse Entdeckung gestoßen war, daß es Runen geben könne, welche blos aus einzelnen willkürlich gestellten Strichen bestan-, den — also eigentlich Runen, die keine Runen sind, so war es nicht wohl möglich, daß die Confusion noch ärger werden konnte. Es ist das Verdienst eines deutschen Forschers, diesem Unfug ein Ende gemacht zu haben, d. h. was man Ende machen im höheren Sinne nennt. Denn jeder innerlich besiegte Irrthum hat noch immer das Vermögen, sein äußeres Dasein fortzufristen und sich je nach Gelegenheit noch anmaßlicher als zuvor, wo er in seiner Naivetät vegetirte, zu gebärden. Im Jahre 1826 erschien in sehr unscheinbarem Octav, auf sehr grauem Papier, mit sehr altmodischen Lettern gedruckt, ein Buch mit dem gleichfalls sehr unschein¬ baren Titel „Ueber deutsche Runen" von Wilhelm Carl Grimm. Es war die erste größere selbständige Arbeit, welche der an Jahren etwas jüngere, an geistiger Potenz ebenbürtige, nur nach anderer Seite hin begabte Bruder des Schöpfers der deutschen Grammatik, des damals schon als Meister in seinem Fache anerkannten Jacob Grimm erscheinen ließ. Sie zeichnete sich durch alle die dem Verfasser eigenthümlich gebliebenen Vorzüge aus, ein stilles, liebevolles Versenken des Auges in den Gegenstand, eine unbegrenzte Hin- gabe an das allertrockenste Detail, ein ruhiges und klares Urtheil, das in der schonendsten Form allen bloßen Einbildungen und Hypothesen der anderen nicht sowohl widerlegte als vielmehr wie Seifenblasen in der klaren glänzen¬ den Luft des Verstandes zerstieben ließ. Es bleibt für immer bewunderungs- 12*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/105>, abgerufen am 02.07.2024.