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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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als gesichert gelten konnte, in anderen schienen sie ebenso sehr unter sich
selbst wie von diesen abzuweichen. Namentlich enthielten sie zuweilen fünf, oft
aber auch acht, neun, ja manchmal gar eine noch größere Zahl von Buch¬
staben, die sich unter den meist auf sechszehn beschränkten Zeichen der anderen
gar nicht fanden. Einige darunter schienen an lateinische, andere an
griechische Lettern zu erinnern, ja die fruchtbare Phantasie jener Zeit griff
kecken Muthes in alle möglichen anderen Alphabete und versuchte sich in den
seltsamsten Conjecturen, um diese Fremdlinge heimzuweisen. Denn selbst¬
verständlich blieb immer stillschweigend oder ausgesprochen die Annahme be¬
stehen , daß jene leicht lesbaren und deutbaren sechszehn Zeichen der meisten
Runeninschriften das wahre, eigentliche Nunenalphabet darstellten und alles
was mehr oder anders als in ihm sich finde, nur Depravation oder Digene-
ration sei.

So lange man an dieser Hypothese festhielt, mußte man durch einen
weiteren sehr natürlichen Trugschluß auch dazu verleitet werden, die Sprache,
welche durch jene ausführlicheren Runenalphabete überliefert wurde, für die¬
selbe wie die der bekannten und richtig erklärten Inschriften in dem kürzern
Alphabete zu halten. Diese war altnordisch in den verschiedensten Variatio¬
nen des Ortes und , der Zeit und der größeren oder geringeren Gewandt¬
heit des Schreibers in der Literatursprache seines Volks. Auf solche uns
wichtig scheinende und genau beobachtete Varietäten achtete man begreiflich
im 17. und 18. Jahrhundert noch sehr wenig, und in der Hauptsache kam
allerdings auch nicht viel darauf an. Aber als man nun die Probe machte,
einige in Skandinavien namentlich aber auch einige in England gefundene
Inschriften des ausführlicheren Alphabets schlechtweg aus der altnordischen
Sprache zu erklären, da zeigte sich bald, daß die willkürlichsten Hypothesen
über den Werth und die Bedeutung nicht blos der im kürzeren Alphabete
fehlenden Zeichen, sondern auch der in diesem nach ihrer Geltung wohl be¬
kannten und erprobten doch nicht ausreichten, um einen Sinn herauszu¬
bringen, welcher nur einigermaßen befriedigen und weiteren Schlüssen zur
Grundlage dienen konnte. Daher denn auch bald die schärfsten Con-
troversen und gröbsten Katzbalgereien sich an diesen harmlosen Denk¬
mälern einer in tausendjährigem Grabesfrieden ruhenden Vorzeit als üppig
wuchernde Schlingpflanzen emporrankten, ohne zu ihrem Schmucke und was
noch schlimmer war, ohne zu ihrem Verständniß auch nur das mindeste
beizutragen.

Da einmal eine Bresche in die feste Mauer der altbekannten sechszehn
Buchstaben geschossen war, so mußte sich diese durch den natürlichen Laus
der Dinge, die bornirte Rechthaberei, die Eitelkeit und den engen Gesichts¬
kreis jener angeblich Sachverständigen, welche eben deshalb von keiner innern,


als gesichert gelten konnte, in anderen schienen sie ebenso sehr unter sich
selbst wie von diesen abzuweichen. Namentlich enthielten sie zuweilen fünf, oft
aber auch acht, neun, ja manchmal gar eine noch größere Zahl von Buch¬
staben, die sich unter den meist auf sechszehn beschränkten Zeichen der anderen
gar nicht fanden. Einige darunter schienen an lateinische, andere an
griechische Lettern zu erinnern, ja die fruchtbare Phantasie jener Zeit griff
kecken Muthes in alle möglichen anderen Alphabete und versuchte sich in den
seltsamsten Conjecturen, um diese Fremdlinge heimzuweisen. Denn selbst¬
verständlich blieb immer stillschweigend oder ausgesprochen die Annahme be¬
stehen , daß jene leicht lesbaren und deutbaren sechszehn Zeichen der meisten
Runeninschriften das wahre, eigentliche Nunenalphabet darstellten und alles
was mehr oder anders als in ihm sich finde, nur Depravation oder Digene-
ration sei.

So lange man an dieser Hypothese festhielt, mußte man durch einen
weiteren sehr natürlichen Trugschluß auch dazu verleitet werden, die Sprache,
welche durch jene ausführlicheren Runenalphabete überliefert wurde, für die¬
selbe wie die der bekannten und richtig erklärten Inschriften in dem kürzern
Alphabete zu halten. Diese war altnordisch in den verschiedensten Variatio¬
nen des Ortes und , der Zeit und der größeren oder geringeren Gewandt¬
heit des Schreibers in der Literatursprache seines Volks. Auf solche uns
wichtig scheinende und genau beobachtete Varietäten achtete man begreiflich
im 17. und 18. Jahrhundert noch sehr wenig, und in der Hauptsache kam
allerdings auch nicht viel darauf an. Aber als man nun die Probe machte,
einige in Skandinavien namentlich aber auch einige in England gefundene
Inschriften des ausführlicheren Alphabets schlechtweg aus der altnordischen
Sprache zu erklären, da zeigte sich bald, daß die willkürlichsten Hypothesen
über den Werth und die Bedeutung nicht blos der im kürzeren Alphabete
fehlenden Zeichen, sondern auch der in diesem nach ihrer Geltung wohl be¬
kannten und erprobten doch nicht ausreichten, um einen Sinn herauszu¬
bringen, welcher nur einigermaßen befriedigen und weiteren Schlüssen zur
Grundlage dienen konnte. Daher denn auch bald die schärfsten Con-
troversen und gröbsten Katzbalgereien sich an diesen harmlosen Denk¬
mälern einer in tausendjährigem Grabesfrieden ruhenden Vorzeit als üppig
wuchernde Schlingpflanzen emporrankten, ohne zu ihrem Schmucke und was
noch schlimmer war, ohne zu ihrem Verständniß auch nur das mindeste
beizutragen.

Da einmal eine Bresche in die feste Mauer der altbekannten sechszehn
Buchstaben geschossen war, so mußte sich diese durch den natürlichen Laus
der Dinge, die bornirte Rechthaberei, die Eitelkeit und den engen Gesichts¬
kreis jener angeblich Sachverständigen, welche eben deshalb von keiner innern,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/104>, abgerufen am 02.07.2024.