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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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kehrten, es auch andere gäbe, in denen man mit der gewöhnlichen Deutung
nicht ausreicht. Da man noch nicht daran dachte, daß in dem scheinbar
einheitlichen Gebiet der Runenverwendung sich möglicherweise eine funda¬
mentale Differenz finden könnte, so suchte man sich so gut als es eben ging
zu helfen. Das einfachste war die Annahme, daß die Verfertiger solcher
unentzifferbarer oder schwieriger Nuneninschriften selbst nicht recht unterrichtet
in der Kunst der Runenschreibung gewesen sein möchten. Diese leichtfertige
Annahme konnte aber selbst in den kritiklosen Zeiten, welche der Begründung
der germanischen Alterthumskunde als Wissenschaft durch Grimm und Lach¬
mann vorhergingen, nur so lang gehalten werden, als man blos einige wenige
solcher angeblicher Versehen kannte. Als sie aber Dutzendweise und was
das bedenklichste war, offenbar in methodischer Verwendung zum Vorschein
kamen, wurde man doch stutzig. Man fing an, die Möglichkeit zuzugeben,
daß mehrere Runenalphabete nebeneinander oder vielleicht auch nachein¬
ander in Gebrauch gewesen sein könnten, und namentlich erwarb sich der
fleißige und solide englische Alterthumsforscher Hickes (der wie wenige seiner
Zeit einen freien Blick über das ganze germanische Sprach- und Geschichts¬
gebiet sich erworben und nicht blos für einen Engländer seiner Tage im
hohen Grade alle insularen oder nationalen Vorurtheile abgestreift hatte),
durch Sammlung authentischer, in Handschriften ältesten Datums erhaltener
Runenalphabete große Verdienste. Hier war der augenscheinliche Nachweis
geliefert, daß wirklich mehrere solcher nebeneinander bestanden hatten, minde¬
stens ein Dutzend oder mehr. Und sehr erfreulich war auch, daß mehrere
dieser Alphabete in allen Hauptsachen mit den praktischen Belegen einer
anderen als der gewöhnlichen Runenschrift stimmten, welche bis dahin dem
Antiquar so viel Kopfzerbrechen verursacht hatten. Jetzt konnte man wenig¬
stens sagen, daß diese oder jene Rune nach dem in den geschriebenen Alpha¬
beten gewöhnlich beigefügten Schlüssel dieser oder jener lateinischen Buchstaben,
b, e oder et bezeichne.

Jetzt wurde man auch erst im Zusammenhang darauf aufmerksam, daß
sich auch in älteren deutschen d. h. in Deutschland geschriebenen Handschriften,
namentlich solchen, die aus Se. Gallen stammten, ähnliche Runenalphabete
wie die in den angelsächsischen Handschriften, zum Theil mit denselben Namen
sür die einzelnen Buchstaben vorfanden, denn daß die Namen leto, nur,
dorn, vos, rat, die eine deutsche Handschrist enthielt, nichts weiter als das
devil, ur, tdoi-it, os, rack einer andern in England geschriebenen sei, war bet
der völligen Identität der so benannten Zeichen nicht zu verkennen.

Es fragte sich nun aber: welcher Sprache gehörten diese Alphabete an?
Sie stimmten in sehr vielen Buchstaben sehr genau mit den traditionell be¬
kannten gewöhnlichen nordischen Runen, deren Bedeutung und Erklärung


Grenzboten III. 1863. 12

kehrten, es auch andere gäbe, in denen man mit der gewöhnlichen Deutung
nicht ausreicht. Da man noch nicht daran dachte, daß in dem scheinbar
einheitlichen Gebiet der Runenverwendung sich möglicherweise eine funda¬
mentale Differenz finden könnte, so suchte man sich so gut als es eben ging
zu helfen. Das einfachste war die Annahme, daß die Verfertiger solcher
unentzifferbarer oder schwieriger Nuneninschriften selbst nicht recht unterrichtet
in der Kunst der Runenschreibung gewesen sein möchten. Diese leichtfertige
Annahme konnte aber selbst in den kritiklosen Zeiten, welche der Begründung
der germanischen Alterthumskunde als Wissenschaft durch Grimm und Lach¬
mann vorhergingen, nur so lang gehalten werden, als man blos einige wenige
solcher angeblicher Versehen kannte. Als sie aber Dutzendweise und was
das bedenklichste war, offenbar in methodischer Verwendung zum Vorschein
kamen, wurde man doch stutzig. Man fing an, die Möglichkeit zuzugeben,
daß mehrere Runenalphabete nebeneinander oder vielleicht auch nachein¬
ander in Gebrauch gewesen sein könnten, und namentlich erwarb sich der
fleißige und solide englische Alterthumsforscher Hickes (der wie wenige seiner
Zeit einen freien Blick über das ganze germanische Sprach- und Geschichts¬
gebiet sich erworben und nicht blos für einen Engländer seiner Tage im
hohen Grade alle insularen oder nationalen Vorurtheile abgestreift hatte),
durch Sammlung authentischer, in Handschriften ältesten Datums erhaltener
Runenalphabete große Verdienste. Hier war der augenscheinliche Nachweis
geliefert, daß wirklich mehrere solcher nebeneinander bestanden hatten, minde¬
stens ein Dutzend oder mehr. Und sehr erfreulich war auch, daß mehrere
dieser Alphabete in allen Hauptsachen mit den praktischen Belegen einer
anderen als der gewöhnlichen Runenschrift stimmten, welche bis dahin dem
Antiquar so viel Kopfzerbrechen verursacht hatten. Jetzt konnte man wenig¬
stens sagen, daß diese oder jene Rune nach dem in den geschriebenen Alpha¬
beten gewöhnlich beigefügten Schlüssel dieser oder jener lateinischen Buchstaben,
b, e oder et bezeichne.

Jetzt wurde man auch erst im Zusammenhang darauf aufmerksam, daß
sich auch in älteren deutschen d. h. in Deutschland geschriebenen Handschriften,
namentlich solchen, die aus Se. Gallen stammten, ähnliche Runenalphabete
wie die in den angelsächsischen Handschriften, zum Theil mit denselben Namen
sür die einzelnen Buchstaben vorfanden, denn daß die Namen leto, nur,
dorn, vos, rat, die eine deutsche Handschrist enthielt, nichts weiter als das
devil, ur, tdoi-it, os, rack einer andern in England geschriebenen sei, war bet
der völligen Identität der so benannten Zeichen nicht zu verkennen.

Es fragte sich nun aber: welcher Sprache gehörten diese Alphabete an?
Sie stimmten in sehr vielen Buchstaben sehr genau mit den traditionell be¬
kannten gewöhnlichen nordischen Runen, deren Bedeutung und Erklärung


Grenzboten III. 1863. 12
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[0103] kehrten, es auch andere gäbe, in denen man mit der gewöhnlichen Deutung nicht ausreicht. Da man noch nicht daran dachte, daß in dem scheinbar einheitlichen Gebiet der Runenverwendung sich möglicherweise eine funda¬ mentale Differenz finden könnte, so suchte man sich so gut als es eben ging zu helfen. Das einfachste war die Annahme, daß die Verfertiger solcher unentzifferbarer oder schwieriger Nuneninschriften selbst nicht recht unterrichtet in der Kunst der Runenschreibung gewesen sein möchten. Diese leichtfertige Annahme konnte aber selbst in den kritiklosen Zeiten, welche der Begründung der germanischen Alterthumskunde als Wissenschaft durch Grimm und Lach¬ mann vorhergingen, nur so lang gehalten werden, als man blos einige wenige solcher angeblicher Versehen kannte. Als sie aber Dutzendweise und was das bedenklichste war, offenbar in methodischer Verwendung zum Vorschein kamen, wurde man doch stutzig. Man fing an, die Möglichkeit zuzugeben, daß mehrere Runenalphabete nebeneinander oder vielleicht auch nachein¬ ander in Gebrauch gewesen sein könnten, und namentlich erwarb sich der fleißige und solide englische Alterthumsforscher Hickes (der wie wenige seiner Zeit einen freien Blick über das ganze germanische Sprach- und Geschichts¬ gebiet sich erworben und nicht blos für einen Engländer seiner Tage im hohen Grade alle insularen oder nationalen Vorurtheile abgestreift hatte), durch Sammlung authentischer, in Handschriften ältesten Datums erhaltener Runenalphabete große Verdienste. Hier war der augenscheinliche Nachweis geliefert, daß wirklich mehrere solcher nebeneinander bestanden hatten, minde¬ stens ein Dutzend oder mehr. Und sehr erfreulich war auch, daß mehrere dieser Alphabete in allen Hauptsachen mit den praktischen Belegen einer anderen als der gewöhnlichen Runenschrift stimmten, welche bis dahin dem Antiquar so viel Kopfzerbrechen verursacht hatten. Jetzt konnte man wenig¬ stens sagen, daß diese oder jene Rune nach dem in den geschriebenen Alpha¬ beten gewöhnlich beigefügten Schlüssel dieser oder jener lateinischen Buchstaben, b, e oder et bezeichne. Jetzt wurde man auch erst im Zusammenhang darauf aufmerksam, daß sich auch in älteren deutschen d. h. in Deutschland geschriebenen Handschriften, namentlich solchen, die aus Se. Gallen stammten, ähnliche Runenalphabete wie die in den angelsächsischen Handschriften, zum Theil mit denselben Namen sür die einzelnen Buchstaben vorfanden, denn daß die Namen leto, nur, dorn, vos, rat, die eine deutsche Handschrist enthielt, nichts weiter als das devil, ur, tdoi-it, os, rack einer andern in England geschriebenen sei, war bet der völligen Identität der so benannten Zeichen nicht zu verkennen. Es fragte sich nun aber: welcher Sprache gehörten diese Alphabete an? Sie stimmten in sehr vielen Buchstaben sehr genau mit den traditionell be¬ kannten gewöhnlichen nordischen Runen, deren Bedeutung und Erklärung Grenzboten III. 1863. 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/103>, abgerufen am 02.07.2024.