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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Beginnen wir mit Galizien. jenem östreichischen Kronlande, das zwar
zu Cisleithanien gezählt wird, aber nichtsdestoweniger eine eigene Welt bil¬
det, in welcher der deutsche Einfluß, wenn überhaupt, nur höchst spärlich
Wurzel geschlagen hat. Während der westliche Theil des Landes (das Flüß-
chen San bildet die Sprach- und Stammesgrenze) polnisch ist, leben im Osten
sog. Ruthenen, d. h. Kleinrussen, die durch nichts von den Bewohnern der
angrenzenden russischen Provinzen verschieden, seit Jahrzehnten die Herrschaft
des polnischen Adels und der polnischen Cultur abzuwerfen bestrebt sind und
von der k. k. Regierung je nach denn augenblicklichen Zwecken bald gehät¬
schelt, bald zurückgestoßen werden. Vor uns liegt das Hauptorgan der russischen
Partei, das zweimal wöchentlich zu Lemberg erscheinende Journal Slowo.
Schon das Aeußere desselben ist für die Tendenzen der Richtung, welche es
vertritt, höchst charakteristisch: die Lettern sind russische, die Sprache wesent¬
lich dieselbe, wie sie in Moskau und Petersburg gesprochen und geschrieben
wird, höchstens daß taktische und orthographische Abweichungen uns daran erin¬
nern, daß wir nicht auf russischem Boden stehen. Außer einigen Korrespondenzen
aus Weder (Wien) und verschiedenen galizischen Nachbarstädten, einem Leit¬
artikel von wesentlich panslavistischer Färbung und kurzen Notizen aus
Frankreich, Italien und Norddeutschland, handelt der größte Theil des Blatts
von Rußland und russischen Dingen; das Feuilleton enthält einen längeren
Artikel über die "Jesuiten in Rußland", dessen Spitze nicht gegen den
Jesuitenorden, sondern die mit dem Polonismus verbündete römisch-katholische
Kirche gerichtet ist. Vergebens sehen wir uns nach Spuren der Freude über
den vielgerühmten jungen Constitutionalismus des Kaiserstaats um, der lei¬
tende Artikel unterzieht die Finanzpolitik des Dr. Brest! einer scharfen Kritik
und enthält bittere Klagen über das traurige Geschick des russisch-östreichi¬
schen Volks (der Ausdruck "Ruthenen" wird geflissentlich nicht gebraucht,
existirt überhaupt nur noch in deutschen Handbüchern und Zeitungen). Es
ist von der projektirten Couponsteuer die Rede: "Dieser Plan," heißt es
a. a. O., "wird sicher Billigung finden, wenigstens in den Ländern, in
welchen der Boden für denselben bereits gehörig bearbeitet ist. Bei uns
sind die Verhältnisse längst nicht mehr dazu angethan, daß derartige Reformen
noch Hoffnungen erwecken könnten, unser Land befindet sich immer noch in
einer exceptionellen Lage. Alle seit 1848 unternommenen politischen Orga¬
nisationen sind für uns ungeeignet gewesen und haben nicht zum Wohl
des Landes, sondern zu dessen Schaden, zu materiellen Verlusten und man¬
cherlei Schädigungen geführt, wie sie von unsern Volksvertretern oft genug
auf den Landtagen zur Sprache gebracht worden sind. Die Wünsche und
Forderungen, welche das russische Volk seit dem Jahre 1848 verlautbart
hat, sind der Hauptsache nach unberücksichtigt geblieben, die von der Im-


Beginnen wir mit Galizien. jenem östreichischen Kronlande, das zwar
zu Cisleithanien gezählt wird, aber nichtsdestoweniger eine eigene Welt bil¬
det, in welcher der deutsche Einfluß, wenn überhaupt, nur höchst spärlich
Wurzel geschlagen hat. Während der westliche Theil des Landes (das Flüß-
chen San bildet die Sprach- und Stammesgrenze) polnisch ist, leben im Osten
sog. Ruthenen, d. h. Kleinrussen, die durch nichts von den Bewohnern der
angrenzenden russischen Provinzen verschieden, seit Jahrzehnten die Herrschaft
des polnischen Adels und der polnischen Cultur abzuwerfen bestrebt sind und
von der k. k. Regierung je nach denn augenblicklichen Zwecken bald gehät¬
schelt, bald zurückgestoßen werden. Vor uns liegt das Hauptorgan der russischen
Partei, das zweimal wöchentlich zu Lemberg erscheinende Journal Slowo.
Schon das Aeußere desselben ist für die Tendenzen der Richtung, welche es
vertritt, höchst charakteristisch: die Lettern sind russische, die Sprache wesent¬
lich dieselbe, wie sie in Moskau und Petersburg gesprochen und geschrieben
wird, höchstens daß taktische und orthographische Abweichungen uns daran erin¬
nern, daß wir nicht auf russischem Boden stehen. Außer einigen Korrespondenzen
aus Weder (Wien) und verschiedenen galizischen Nachbarstädten, einem Leit¬
artikel von wesentlich panslavistischer Färbung und kurzen Notizen aus
Frankreich, Italien und Norddeutschland, handelt der größte Theil des Blatts
von Rußland und russischen Dingen; das Feuilleton enthält einen längeren
Artikel über die „Jesuiten in Rußland", dessen Spitze nicht gegen den
Jesuitenorden, sondern die mit dem Polonismus verbündete römisch-katholische
Kirche gerichtet ist. Vergebens sehen wir uns nach Spuren der Freude über
den vielgerühmten jungen Constitutionalismus des Kaiserstaats um, der lei¬
tende Artikel unterzieht die Finanzpolitik des Dr. Brest! einer scharfen Kritik
und enthält bittere Klagen über das traurige Geschick des russisch-östreichi¬
schen Volks (der Ausdruck „Ruthenen" wird geflissentlich nicht gebraucht,
existirt überhaupt nur noch in deutschen Handbüchern und Zeitungen). Es
ist von der projektirten Couponsteuer die Rede: „Dieser Plan," heißt es
a. a. O., „wird sicher Billigung finden, wenigstens in den Ländern, in
welchen der Boden für denselben bereits gehörig bearbeitet ist. Bei uns
sind die Verhältnisse längst nicht mehr dazu angethan, daß derartige Reformen
noch Hoffnungen erwecken könnten, unser Land befindet sich immer noch in
einer exceptionellen Lage. Alle seit 1848 unternommenen politischen Orga¬
nisationen sind für uns ungeeignet gewesen und haben nicht zum Wohl
des Landes, sondern zu dessen Schaden, zu materiellen Verlusten und man¬
cherlei Schädigungen geführt, wie sie von unsern Volksvertretern oft genug
auf den Landtagen zur Sprache gebracht worden sind. Die Wünsche und
Forderungen, welche das russische Volk seit dem Jahre 1848 verlautbart
hat, sind der Hauptsache nach unberücksichtigt geblieben, die von der Im-


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[0479] Beginnen wir mit Galizien. jenem östreichischen Kronlande, das zwar zu Cisleithanien gezählt wird, aber nichtsdestoweniger eine eigene Welt bil¬ det, in welcher der deutsche Einfluß, wenn überhaupt, nur höchst spärlich Wurzel geschlagen hat. Während der westliche Theil des Landes (das Flüß- chen San bildet die Sprach- und Stammesgrenze) polnisch ist, leben im Osten sog. Ruthenen, d. h. Kleinrussen, die durch nichts von den Bewohnern der angrenzenden russischen Provinzen verschieden, seit Jahrzehnten die Herrschaft des polnischen Adels und der polnischen Cultur abzuwerfen bestrebt sind und von der k. k. Regierung je nach denn augenblicklichen Zwecken bald gehät¬ schelt, bald zurückgestoßen werden. Vor uns liegt das Hauptorgan der russischen Partei, das zweimal wöchentlich zu Lemberg erscheinende Journal Slowo. Schon das Aeußere desselben ist für die Tendenzen der Richtung, welche es vertritt, höchst charakteristisch: die Lettern sind russische, die Sprache wesent¬ lich dieselbe, wie sie in Moskau und Petersburg gesprochen und geschrieben wird, höchstens daß taktische und orthographische Abweichungen uns daran erin¬ nern, daß wir nicht auf russischem Boden stehen. Außer einigen Korrespondenzen aus Weder (Wien) und verschiedenen galizischen Nachbarstädten, einem Leit¬ artikel von wesentlich panslavistischer Färbung und kurzen Notizen aus Frankreich, Italien und Norddeutschland, handelt der größte Theil des Blatts von Rußland und russischen Dingen; das Feuilleton enthält einen längeren Artikel über die „Jesuiten in Rußland", dessen Spitze nicht gegen den Jesuitenorden, sondern die mit dem Polonismus verbündete römisch-katholische Kirche gerichtet ist. Vergebens sehen wir uns nach Spuren der Freude über den vielgerühmten jungen Constitutionalismus des Kaiserstaats um, der lei¬ tende Artikel unterzieht die Finanzpolitik des Dr. Brest! einer scharfen Kritik und enthält bittere Klagen über das traurige Geschick des russisch-östreichi¬ schen Volks (der Ausdruck „Ruthenen" wird geflissentlich nicht gebraucht, existirt überhaupt nur noch in deutschen Handbüchern und Zeitungen). Es ist von der projektirten Couponsteuer die Rede: „Dieser Plan," heißt es a. a. O., „wird sicher Billigung finden, wenigstens in den Ländern, in welchen der Boden für denselben bereits gehörig bearbeitet ist. Bei uns sind die Verhältnisse längst nicht mehr dazu angethan, daß derartige Reformen noch Hoffnungen erwecken könnten, unser Land befindet sich immer noch in einer exceptionellen Lage. Alle seit 1848 unternommenen politischen Orga¬ nisationen sind für uns ungeeignet gewesen und haben nicht zum Wohl des Landes, sondern zu dessen Schaden, zu materiellen Verlusten und man¬ cherlei Schädigungen geführt, wie sie von unsern Volksvertretern oft genug auf den Landtagen zur Sprache gebracht worden sind. Die Wünsche und Forderungen, welche das russische Volk seit dem Jahre 1848 verlautbart hat, sind der Hauptsache nach unberücksichtigt geblieben, die von der Im-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/479>, abgerufen am 24.08.2024.