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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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orientalischen Frage" angenommen. Gilt den meisten Leuten doch die sla¬
visch-orientalische Welt nur für eine Art von Hampelmann, der, je nachdem
Nußland den Faden anzieht oder unberührt läßt, "fieberisch zuckt" oder un¬
beweglich daliegt. Und doch bewegt sich das Leben dieser slavisch-orientalischen
Völker, welche bald in dichten Gruppen, bald mit andern Nationalitäten ver¬
mischt das ungeheure Gebiet von den Karpathen bis an den Bosporus be¬
wohnen -- nach eignen Gesetzen, von denen Rußland wohl Vortheil ziehen
kann, die aber nicht von der Willkür dieses Staats, geschweige denn seiner
Regierung abhängig sind. Kämpfe um das Nationalitätsprinzip und dessen
Auslegungen wurden hier geführt, lange bevor der Name für dasselbe ge¬
sunden, seine Lehren dem Codex des modernen Völkerrechts einverleibt waren.
Hat es doch von den Millionen außerrussischer Slaven, welche in Oestreich
und der Türkei leben, kein einziger Stamm zu selbständiger staatlicher Exi¬
stenz zu bringen vermocht, sind sie doch sammt und sonders, die Ruthenen
wie die Slovenen und Slovaken, die Kroaten, Jllyrier, Wallachen, Serben,
Bulgaren und Montenegriner, noch immer damit beschäftigt, die Grundlagen
einer solchen zu finden. Rußland ist wohl im Stande, die nationalen
Wünsche dieser Völkersplitter so zu leiten, daß sie zur Erweiterung seines
Machtgebietes beitragen, denselben dauernd Halt zu gebieten ist dieser Staat
ebensowenig im Stande als ein andrer, zumal seit auch sein Herrscher auf
die traditionellen Neigungen und Sympathien seiner Unterthanen Rücksicht
zu nehmen hat. Einmal geweckt, ist der nationale Fanatismus nicht mehr
zu beschwören, denn es heißt auch hier: "Das erste steht uns frei, beim
zweiten sind wir Knechte." Möglich, daß in den östreichischen und den
türkisch-slavischen Ländern noch eine Zeit lang Friede gehalten wird. Ru߬
lands Versicherung, den Zersetzungsprozeß, der sich in denselben vollzieht, nicht
fördern zu wollen, wird aber, auch wenn sie ernst gemeint ist, diesen Frieden
noch nicht verbürgen können. So bedeutend auch sein Einfluß ist, ein flüchtiger
Blick auf die gespannte Lage, in welcher die west- und südslavische Welt sich
befindet, reicht zu der Ueberzeugung hin, daß der Gründe zur Befürchtung
einer Explosion mehr sind, als der Gründe für Annahme des Gegentheils.
'

Halten wir auf Grund uns vorliegender Localzeitungen Rundschau
über die Stimmungen und Bestrebungen, welche sich in den genannten Län¬
dern des slavischen Westens und europäischen Ostens während der letzten
Wochen kund gethan haben. So übel es auch mit der Kultur der Donau-
Slaven bestellt ist, sein Zeitungsblatt hat jeder größere Ort in Galizien,
Rumänien, Serbien und Croatien, über die Vorgänge auf türkisch-slavischem
Gebiet sind diese Journale meist gut unterrichtet, und die russische Sprache
bietet einen Schlüssel, der die Geheimnisse mindestens eines Theils der slavi¬
schen Idiome erschließt.


orientalischen Frage" angenommen. Gilt den meisten Leuten doch die sla¬
visch-orientalische Welt nur für eine Art von Hampelmann, der, je nachdem
Nußland den Faden anzieht oder unberührt läßt, „fieberisch zuckt" oder un¬
beweglich daliegt. Und doch bewegt sich das Leben dieser slavisch-orientalischen
Völker, welche bald in dichten Gruppen, bald mit andern Nationalitäten ver¬
mischt das ungeheure Gebiet von den Karpathen bis an den Bosporus be¬
wohnen — nach eignen Gesetzen, von denen Rußland wohl Vortheil ziehen
kann, die aber nicht von der Willkür dieses Staats, geschweige denn seiner
Regierung abhängig sind. Kämpfe um das Nationalitätsprinzip und dessen
Auslegungen wurden hier geführt, lange bevor der Name für dasselbe ge¬
sunden, seine Lehren dem Codex des modernen Völkerrechts einverleibt waren.
Hat es doch von den Millionen außerrussischer Slaven, welche in Oestreich
und der Türkei leben, kein einziger Stamm zu selbständiger staatlicher Exi¬
stenz zu bringen vermocht, sind sie doch sammt und sonders, die Ruthenen
wie die Slovenen und Slovaken, die Kroaten, Jllyrier, Wallachen, Serben,
Bulgaren und Montenegriner, noch immer damit beschäftigt, die Grundlagen
einer solchen zu finden. Rußland ist wohl im Stande, die nationalen
Wünsche dieser Völkersplitter so zu leiten, daß sie zur Erweiterung seines
Machtgebietes beitragen, denselben dauernd Halt zu gebieten ist dieser Staat
ebensowenig im Stande als ein andrer, zumal seit auch sein Herrscher auf
die traditionellen Neigungen und Sympathien seiner Unterthanen Rücksicht
zu nehmen hat. Einmal geweckt, ist der nationale Fanatismus nicht mehr
zu beschwören, denn es heißt auch hier: „Das erste steht uns frei, beim
zweiten sind wir Knechte." Möglich, daß in den östreichischen und den
türkisch-slavischen Ländern noch eine Zeit lang Friede gehalten wird. Ru߬
lands Versicherung, den Zersetzungsprozeß, der sich in denselben vollzieht, nicht
fördern zu wollen, wird aber, auch wenn sie ernst gemeint ist, diesen Frieden
noch nicht verbürgen können. So bedeutend auch sein Einfluß ist, ein flüchtiger
Blick auf die gespannte Lage, in welcher die west- und südslavische Welt sich
befindet, reicht zu der Ueberzeugung hin, daß der Gründe zur Befürchtung
einer Explosion mehr sind, als der Gründe für Annahme des Gegentheils.
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Halten wir auf Grund uns vorliegender Localzeitungen Rundschau
über die Stimmungen und Bestrebungen, welche sich in den genannten Län¬
dern des slavischen Westens und europäischen Ostens während der letzten
Wochen kund gethan haben. So übel es auch mit der Kultur der Donau-
Slaven bestellt ist, sein Zeitungsblatt hat jeder größere Ort in Galizien,
Rumänien, Serbien und Croatien, über die Vorgänge auf türkisch-slavischem
Gebiet sind diese Journale meist gut unterrichtet, und die russische Sprache
bietet einen Schlüssel, der die Geheimnisse mindestens eines Theils der slavi¬
schen Idiome erschließt.


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[0478] orientalischen Frage" angenommen. Gilt den meisten Leuten doch die sla¬ visch-orientalische Welt nur für eine Art von Hampelmann, der, je nachdem Nußland den Faden anzieht oder unberührt läßt, „fieberisch zuckt" oder un¬ beweglich daliegt. Und doch bewegt sich das Leben dieser slavisch-orientalischen Völker, welche bald in dichten Gruppen, bald mit andern Nationalitäten ver¬ mischt das ungeheure Gebiet von den Karpathen bis an den Bosporus be¬ wohnen — nach eignen Gesetzen, von denen Rußland wohl Vortheil ziehen kann, die aber nicht von der Willkür dieses Staats, geschweige denn seiner Regierung abhängig sind. Kämpfe um das Nationalitätsprinzip und dessen Auslegungen wurden hier geführt, lange bevor der Name für dasselbe ge¬ sunden, seine Lehren dem Codex des modernen Völkerrechts einverleibt waren. Hat es doch von den Millionen außerrussischer Slaven, welche in Oestreich und der Türkei leben, kein einziger Stamm zu selbständiger staatlicher Exi¬ stenz zu bringen vermocht, sind sie doch sammt und sonders, die Ruthenen wie die Slovenen und Slovaken, die Kroaten, Jllyrier, Wallachen, Serben, Bulgaren und Montenegriner, noch immer damit beschäftigt, die Grundlagen einer solchen zu finden. Rußland ist wohl im Stande, die nationalen Wünsche dieser Völkersplitter so zu leiten, daß sie zur Erweiterung seines Machtgebietes beitragen, denselben dauernd Halt zu gebieten ist dieser Staat ebensowenig im Stande als ein andrer, zumal seit auch sein Herrscher auf die traditionellen Neigungen und Sympathien seiner Unterthanen Rücksicht zu nehmen hat. Einmal geweckt, ist der nationale Fanatismus nicht mehr zu beschwören, denn es heißt auch hier: „Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte." Möglich, daß in den östreichischen und den türkisch-slavischen Ländern noch eine Zeit lang Friede gehalten wird. Ru߬ lands Versicherung, den Zersetzungsprozeß, der sich in denselben vollzieht, nicht fördern zu wollen, wird aber, auch wenn sie ernst gemeint ist, diesen Frieden noch nicht verbürgen können. So bedeutend auch sein Einfluß ist, ein flüchtiger Blick auf die gespannte Lage, in welcher die west- und südslavische Welt sich befindet, reicht zu der Ueberzeugung hin, daß der Gründe zur Befürchtung einer Explosion mehr sind, als der Gründe für Annahme des Gegentheils. ' Halten wir auf Grund uns vorliegender Localzeitungen Rundschau über die Stimmungen und Bestrebungen, welche sich in den genannten Län¬ dern des slavischen Westens und europäischen Ostens während der letzten Wochen kund gethan haben. So übel es auch mit der Kultur der Donau- Slaven bestellt ist, sein Zeitungsblatt hat jeder größere Ort in Galizien, Rumänien, Serbien und Croatien, über die Vorgänge auf türkisch-slavischem Gebiet sind diese Journale meist gut unterrichtet, und die russische Sprache bietet einen Schlüssel, der die Geheimnisse mindestens eines Theils der slavi¬ schen Idiome erschließt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/478>, abgerufen am 22.07.2024.