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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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nach Verlauf von 4 Wochen, also nicht vor dem 24. März, im ganzen König,
reich giltige Wahlen vorgenommen werden konnten.

Was bedeuten in Schwaben Wochen oder Monate? Man hat hier
eine bezeichnende Redensart, die als Beruhigungspflaster für alle Versäum¬
nisse oder Mißgriffe dient: In hundert Jahren ists eins. So hatten die
Schulzen auf dem Lande gedacht, als sie sich zur Auflegung der Wahllisten
Zeit ließen: in hundert Jahren ists einerlei, ob es 14 Tage früher oder
später geschieht. ^

Dieser geschichtsphilosophische Trost mag nun seine unläugbare Berech¬
tigung haben; für den Augenblick aber entstand doch die unangenehme Alter¬
native: entweder das Parlament wurde am 20. März eröffnet -- ohne die
Würtenberger, die dann vielleicht nach 8 oder 10 Tagen, wofern sonst nichts
Störendes mehr dazwischen kam. auch kein Unfall auf der Reise sie traf,
glücklich nachrückten; oder es mußte um ihretwillen die Eröffnung abermals
hinausgeschoben werden. In Berlin mag man unmuthig genug über dieses
Dilemma gewesen sein. Der König hätte es wohl gern gesehen, an seinem
Geburtstag, den 22. März, die Vertreter von ganz Deutschland um sich zu
haben. Und abgesehen davon, wird man dort über den Zeitverlust nicht
so gemüthlich sich hinwegsetzen, wie Hierzuland. Man wird dort ein Ver¬
fahren, wie es hier beliebt, überhaupt kaum begreifen, und man wird bei
der sonstigen Haltung der würtembergischen Regierung wenig geneigt gewesen
sein, die Nachsicht gegen sie aufs äußerste zu treiben. Andererseits mußte
man sich sagen, daß bei der Empfindlichkeit der Schwaben die Eröffnung
ohne sie den übelsten Eindruck machen mußte, man hätte das Volk büßen
lassen, was die Negierung verbrochen, ohne Zweifel hätten die Wahlen selbst
sehr entschieden den Rückschlag davon verspürt. Auch hätte es der Feierlich¬
keit und Bedeutsamkeit des Moments ohne Frage Abbruch gethan, wenn
man die erste gesammtdeutsche Vertretung eröffnet hätte, bei der die Abge¬
ordneten eines Südstaates gar nicht oder nur mit mangelhaften Legitima¬
tionen versehen erschienen wären. Dieser Grund gab schließlich den Aus¬
schlag. Man beschloß, in Gottes Namen zu warten, bis auch die Schwaben
in aller Gesetzmäßigkeit und ohne sich unnöthig zu echauffiren, ihre Wahlen
vorgenommen hätten. Um gleichwohl keine Zeit zu verlieren, wird, wie bekannt,
nunmehr die Session des Zollparlaments in die des Reichstags eingeschaltet.

Die Regierung wird ohne Zweifel die Schuld für diese Verschleppungen
auf die mangelhafte Ausführung ihrer Weisungen in den unteren Sphären
der Hierarchie schieben. Aber es wird sich doch nicht läugnen lassen, daß sie,
wenn sie ernstlich wollte, es in der Hand hatte, die Federn ihrer Schreiber
rascher in Bewegung zu setzen. Ueberhaupt, wenn man den ganzen geschil¬
derten Gang dieser unglücklichen Wahlvorbereitungen überblickt, kann man


Grenzboten I. 18V8- SS

nach Verlauf von 4 Wochen, also nicht vor dem 24. März, im ganzen König,
reich giltige Wahlen vorgenommen werden konnten.

Was bedeuten in Schwaben Wochen oder Monate? Man hat hier
eine bezeichnende Redensart, die als Beruhigungspflaster für alle Versäum¬
nisse oder Mißgriffe dient: In hundert Jahren ists eins. So hatten die
Schulzen auf dem Lande gedacht, als sie sich zur Auflegung der Wahllisten
Zeit ließen: in hundert Jahren ists einerlei, ob es 14 Tage früher oder
später geschieht. ^

Dieser geschichtsphilosophische Trost mag nun seine unläugbare Berech¬
tigung haben; für den Augenblick aber entstand doch die unangenehme Alter¬
native: entweder das Parlament wurde am 20. März eröffnet — ohne die
Würtenberger, die dann vielleicht nach 8 oder 10 Tagen, wofern sonst nichts
Störendes mehr dazwischen kam. auch kein Unfall auf der Reise sie traf,
glücklich nachrückten; oder es mußte um ihretwillen die Eröffnung abermals
hinausgeschoben werden. In Berlin mag man unmuthig genug über dieses
Dilemma gewesen sein. Der König hätte es wohl gern gesehen, an seinem
Geburtstag, den 22. März, die Vertreter von ganz Deutschland um sich zu
haben. Und abgesehen davon, wird man dort über den Zeitverlust nicht
so gemüthlich sich hinwegsetzen, wie Hierzuland. Man wird dort ein Ver¬
fahren, wie es hier beliebt, überhaupt kaum begreifen, und man wird bei
der sonstigen Haltung der würtembergischen Regierung wenig geneigt gewesen
sein, die Nachsicht gegen sie aufs äußerste zu treiben. Andererseits mußte
man sich sagen, daß bei der Empfindlichkeit der Schwaben die Eröffnung
ohne sie den übelsten Eindruck machen mußte, man hätte das Volk büßen
lassen, was die Negierung verbrochen, ohne Zweifel hätten die Wahlen selbst
sehr entschieden den Rückschlag davon verspürt. Auch hätte es der Feierlich¬
keit und Bedeutsamkeit des Moments ohne Frage Abbruch gethan, wenn
man die erste gesammtdeutsche Vertretung eröffnet hätte, bei der die Abge¬
ordneten eines Südstaates gar nicht oder nur mit mangelhaften Legitima¬
tionen versehen erschienen wären. Dieser Grund gab schließlich den Aus¬
schlag. Man beschloß, in Gottes Namen zu warten, bis auch die Schwaben
in aller Gesetzmäßigkeit und ohne sich unnöthig zu echauffiren, ihre Wahlen
vorgenommen hätten. Um gleichwohl keine Zeit zu verlieren, wird, wie bekannt,
nunmehr die Session des Zollparlaments in die des Reichstags eingeschaltet.

Die Regierung wird ohne Zweifel die Schuld für diese Verschleppungen
auf die mangelhafte Ausführung ihrer Weisungen in den unteren Sphären
der Hierarchie schieben. Aber es wird sich doch nicht läugnen lassen, daß sie,
wenn sie ernstlich wollte, es in der Hand hatte, die Federn ihrer Schreiber
rascher in Bewegung zu setzen. Ueberhaupt, wenn man den ganzen geschil¬
derten Gang dieser unglücklichen Wahlvorbereitungen überblickt, kann man


Grenzboten I. 18V8- SS
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/441>, abgerufen am 28.09.2024.