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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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deshalb interpellirt, und Herr v. Geßler schien auch in dieser Frage zur Nach¬
giebigkeit geneigt. Indessen erschien bald darauf ein neues Rescript -- man
sieht, an Geschäftigkeit hat es der Minister nicht fehlen lassen -- welches
zwar jene erste Interpretation nicht aufrecht hielt, jedoch von den Arbeitern,
Commis u. f. w. nur die Verheiratheten für wahlberechtigt erklärte, also eine
neue Beschränkung, ein seltsames Privileg auf die Ehe, eine rein willkürliche
Interpretation. Auch daran hat man sich in Stuttgart wenigstens nicht ge¬
kehrt. Dagegen wird man auf dem Lande überall den verschiedenen mini¬
steriellen Anordnungen nachgekommen sein, und auch daraus ist vielleicht die
Verzögerung zu erklären, die das Wahlgeschäft überhaupt erlitten hat.

Diese Verspätung, die inzwischen in unsern Canzleien ihr unbemerktes
Wesen trieb, kam erst dann ans Tageslicht, als alles längst in Ordnung
schien und Preußen den Termin für die Eröffnung des Parlaments endlich
ansetzen zu können glaubte. Bekanntlich war für dieselbe erst der Februar,
dann Anfang, später Mitte März in Aussicht genommen. Dies wußten die
Regierungen. Niemand konnte es überraschen, als endlich der 20. März als
Eröffnungstermin bestimmt wurde.

In den Ministerien am Nesenbach entstand aber an jenem 27. Februar,
an welchem die Anzeige aus Berlin anlangte, ein jäher Schreck. Auf solche
Ueberstürzung war man nicht gefaßt. Sofort erging eine Erklärung nach
Berlin, es sei schlechterdings unmöglich, die Wahlen so zu beschleunigen, man
bitte dringend um Aufschub. Und warum war in Würtemberg unmöglich,
was doch überall sonst möglich war?. Weil hier von den untergeordneten
Beamten des Schreiberstaats die Ausfertigung der Wählerlisten ganz mit
derselben Gemüthlichkeit betrieben worden war. mit der auch sonst die tgi.
würtembergischen Canzleigeschäfte behandelt zu werden pflegen. Der eine
Fall spricht beredter für den Charakter des kleinstaatlichm Verwaltungs¬
mechanismus, als eine lange Abhandlung. Am 6. September hatte der be¬
treffende Ministerialbeamte das Wahlgesetz ausgearbeitet und vorgelegt. Nun
hatte es aber den landesüblichen Instanzenzug durchzumachen, d. h. es mußte
wochenlang auf dem Ministerium, wochenlang im Geheimenrath, wochenlang
in der Commission des Abgeordnetenhauses liegen, bis es zur Verabschiedung
mit den Ständen gelangte. Endlich nach 6 Monaten, am 10. Febr., konnte
es publicirt werden. Inzwischen waren aber seit Wochen die Weisungen
für die Vorbereitungen der Wählerlisten hinausgegangen, sodaß dieselben,
wie man annehmen mußte, sofort nach Publikation des Gesetzes aufgelegt
werden konnten. Dies geschah auch zum Theil. Zum Theil aber ließen sich
die Oberamtleute und Schulzen Zeit. Dem einen erschien die Sache mehr,
dem andern weniger dringlich. So kam es, daß in einzelnen Gemeinden
erst am 24. Februar die Listen aufgelegt wurden. Die Folge war, daß erst


deshalb interpellirt, und Herr v. Geßler schien auch in dieser Frage zur Nach¬
giebigkeit geneigt. Indessen erschien bald darauf ein neues Rescript — man
sieht, an Geschäftigkeit hat es der Minister nicht fehlen lassen — welches
zwar jene erste Interpretation nicht aufrecht hielt, jedoch von den Arbeitern,
Commis u. f. w. nur die Verheiratheten für wahlberechtigt erklärte, also eine
neue Beschränkung, ein seltsames Privileg auf die Ehe, eine rein willkürliche
Interpretation. Auch daran hat man sich in Stuttgart wenigstens nicht ge¬
kehrt. Dagegen wird man auf dem Lande überall den verschiedenen mini¬
steriellen Anordnungen nachgekommen sein, und auch daraus ist vielleicht die
Verzögerung zu erklären, die das Wahlgeschäft überhaupt erlitten hat.

Diese Verspätung, die inzwischen in unsern Canzleien ihr unbemerktes
Wesen trieb, kam erst dann ans Tageslicht, als alles längst in Ordnung
schien und Preußen den Termin für die Eröffnung des Parlaments endlich
ansetzen zu können glaubte. Bekanntlich war für dieselbe erst der Februar,
dann Anfang, später Mitte März in Aussicht genommen. Dies wußten die
Regierungen. Niemand konnte es überraschen, als endlich der 20. März als
Eröffnungstermin bestimmt wurde.

In den Ministerien am Nesenbach entstand aber an jenem 27. Februar,
an welchem die Anzeige aus Berlin anlangte, ein jäher Schreck. Auf solche
Ueberstürzung war man nicht gefaßt. Sofort erging eine Erklärung nach
Berlin, es sei schlechterdings unmöglich, die Wahlen so zu beschleunigen, man
bitte dringend um Aufschub. Und warum war in Würtemberg unmöglich,
was doch überall sonst möglich war?. Weil hier von den untergeordneten
Beamten des Schreiberstaats die Ausfertigung der Wählerlisten ganz mit
derselben Gemüthlichkeit betrieben worden war. mit der auch sonst die tgi.
würtembergischen Canzleigeschäfte behandelt zu werden pflegen. Der eine
Fall spricht beredter für den Charakter des kleinstaatlichm Verwaltungs¬
mechanismus, als eine lange Abhandlung. Am 6. September hatte der be¬
treffende Ministerialbeamte das Wahlgesetz ausgearbeitet und vorgelegt. Nun
hatte es aber den landesüblichen Instanzenzug durchzumachen, d. h. es mußte
wochenlang auf dem Ministerium, wochenlang im Geheimenrath, wochenlang
in der Commission des Abgeordnetenhauses liegen, bis es zur Verabschiedung
mit den Ständen gelangte. Endlich nach 6 Monaten, am 10. Febr., konnte
es publicirt werden. Inzwischen waren aber seit Wochen die Weisungen
für die Vorbereitungen der Wählerlisten hinausgegangen, sodaß dieselben,
wie man annehmen mußte, sofort nach Publikation des Gesetzes aufgelegt
werden konnten. Dies geschah auch zum Theil. Zum Theil aber ließen sich
die Oberamtleute und Schulzen Zeit. Dem einen erschien die Sache mehr,
dem andern weniger dringlich. So kam es, daß in einzelnen Gemeinden
erst am 24. Februar die Listen aufgelegt wurden. Die Folge war, daß erst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/440>, abgerufen am 26.06.2024.