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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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zu legen, die verschiedenen Schichten der Gesellschaft einander zu nähern und
die schroffen Abstände in Bildung und Sitte einigermaßen auszugleichen.
Aber Sie wissen, mit welchen Hindernissen diese Bestrebungen zu kämpfen
haben, und auf dem Lande werden sie schon allein durch die weiten Ent¬
fernungen und schlechten Wege fast völlig vereitelt. Die landwirtschaftlichen
Vereine, deren es fast in allen Kreisen einen oder mehrere gibt, wirken aller¬
dings segensreich; aber sie greifen nicht tiefer hinab, als bis zu den bäuer¬
lichen Besitzern; der Jnstmann, der Losmann, der gerade der Cultur am
dringendsten bedürfte, steht außerhalb ihrer Sphäre. Eine Landgemeinde¬
ordnung, die natürlichste Bildungsschule für den Landmann
aller Classen, haben wir ja nicht und werden sie auch wohl so bald
noch nicht bekommen!

Auch die Wirksamkeit der Presse ist noch immer eine äußerst untergeord¬
nete. Hat auch bei dem Handwerker und Bauern das Bedürfniß, eine Zei¬
tung zu lesen, seit 1848 merklich zugenommen, so lesen doch auch diese Leute
noch völlig ohne Nachdenken und Urtheil, ja kaum mit einigem Verständniß,
sobald der Gegenstand über die alltäglichsten und nächstliegenden Interessen
hinausgeht. Der Arbeiter aber liest überhaupt noch nicht -- schon deswegen,
weil er großenteils nicht mehr lesen kann!

Es ist eine traurige Thatsache, daß unsere Provinz nebst Posen hinsicht¬
lich des Schulunterrichts hinter allen übrigen alten und neuen Provinzen
des Staats weit zurücksteht. Von 1000 in den letzten Jahren eingestellten
Rekruten waren ohne alle Schulbildung: in den Regierungsbezirken Königs¬
berg und Gumbinnen 101 Mann, in dem von Marienwerder 151 und im
R. Danzig gar 162, durchschnittlich etwa 130! Aehnlich stehen nur noch Brom-
berg mit 144 uKd Posen mit 133 auf 1000, während selbst Oppeln, das
doch auch eine starke Quote polnisch redender Bevölkerung enthält, nur 75
auf 1000 ohne Schulbildung gestellt hat -- zum deutlichen Beweise, daß es
nicht allein an der Sprachvcrschiedenheit liegt. Wenn wir uns auch nicht
mit dem alten Culturlande Sachsen oder mit Berlin, dem Hauptsitze der
Intelligenz vergleichen wollen, die beide nur 2 Mann auf 1000 ohne Schul¬
kenntnisse aufzuweisen haben, so ist doch selbst die Mittelzahl der übrigen
alten Provinzen 8--9. Wie tief stehen Preußen und Posen darunter!

Und man könnte sich noch darüber trösten, wenn jene schlimme Zahl
wenigstens gegen früher einen Fortschritt bedeutete. Aber nein -- wir sind
in den Resultaten der Schulbildung des gemeinen Mannes zurückgegan¬
gen! Als vor wenigen Jahren bei Anlage der Tilsit-Jnsterburger Eisenbahn
Verhandlungen über die Grundentschädigung mit einer Menge von kleinen
Besitzern gepflogen werden mußten, fand sich, daß die älteren Männer,
welche ihre Schulbildung vor 40--50 Jahren erhalten hatten, noch fast


zu legen, die verschiedenen Schichten der Gesellschaft einander zu nähern und
die schroffen Abstände in Bildung und Sitte einigermaßen auszugleichen.
Aber Sie wissen, mit welchen Hindernissen diese Bestrebungen zu kämpfen
haben, und auf dem Lande werden sie schon allein durch die weiten Ent¬
fernungen und schlechten Wege fast völlig vereitelt. Die landwirtschaftlichen
Vereine, deren es fast in allen Kreisen einen oder mehrere gibt, wirken aller¬
dings segensreich; aber sie greifen nicht tiefer hinab, als bis zu den bäuer¬
lichen Besitzern; der Jnstmann, der Losmann, der gerade der Cultur am
dringendsten bedürfte, steht außerhalb ihrer Sphäre. Eine Landgemeinde¬
ordnung, die natürlichste Bildungsschule für den Landmann
aller Classen, haben wir ja nicht und werden sie auch wohl so bald
noch nicht bekommen!

Auch die Wirksamkeit der Presse ist noch immer eine äußerst untergeord¬
nete. Hat auch bei dem Handwerker und Bauern das Bedürfniß, eine Zei¬
tung zu lesen, seit 1848 merklich zugenommen, so lesen doch auch diese Leute
noch völlig ohne Nachdenken und Urtheil, ja kaum mit einigem Verständniß,
sobald der Gegenstand über die alltäglichsten und nächstliegenden Interessen
hinausgeht. Der Arbeiter aber liest überhaupt noch nicht — schon deswegen,
weil er großenteils nicht mehr lesen kann!

Es ist eine traurige Thatsache, daß unsere Provinz nebst Posen hinsicht¬
lich des Schulunterrichts hinter allen übrigen alten und neuen Provinzen
des Staats weit zurücksteht. Von 1000 in den letzten Jahren eingestellten
Rekruten waren ohne alle Schulbildung: in den Regierungsbezirken Königs¬
berg und Gumbinnen 101 Mann, in dem von Marienwerder 151 und im
R. Danzig gar 162, durchschnittlich etwa 130! Aehnlich stehen nur noch Brom-
berg mit 144 uKd Posen mit 133 auf 1000, während selbst Oppeln, das
doch auch eine starke Quote polnisch redender Bevölkerung enthält, nur 75
auf 1000 ohne Schulbildung gestellt hat — zum deutlichen Beweise, daß es
nicht allein an der Sprachvcrschiedenheit liegt. Wenn wir uns auch nicht
mit dem alten Culturlande Sachsen oder mit Berlin, dem Hauptsitze der
Intelligenz vergleichen wollen, die beide nur 2 Mann auf 1000 ohne Schul¬
kenntnisse aufzuweisen haben, so ist doch selbst die Mittelzahl der übrigen
alten Provinzen 8—9. Wie tief stehen Preußen und Posen darunter!

Und man könnte sich noch darüber trösten, wenn jene schlimme Zahl
wenigstens gegen früher einen Fortschritt bedeutete. Aber nein — wir sind
in den Resultaten der Schulbildung des gemeinen Mannes zurückgegan¬
gen! Als vor wenigen Jahren bei Anlage der Tilsit-Jnsterburger Eisenbahn
Verhandlungen über die Grundentschädigung mit einer Menge von kleinen
Besitzern gepflogen werden mußten, fand sich, daß die älteren Männer,
welche ihre Schulbildung vor 40—50 Jahren erhalten hatten, noch fast


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[0423] zu legen, die verschiedenen Schichten der Gesellschaft einander zu nähern und die schroffen Abstände in Bildung und Sitte einigermaßen auszugleichen. Aber Sie wissen, mit welchen Hindernissen diese Bestrebungen zu kämpfen haben, und auf dem Lande werden sie schon allein durch die weiten Ent¬ fernungen und schlechten Wege fast völlig vereitelt. Die landwirtschaftlichen Vereine, deren es fast in allen Kreisen einen oder mehrere gibt, wirken aller¬ dings segensreich; aber sie greifen nicht tiefer hinab, als bis zu den bäuer¬ lichen Besitzern; der Jnstmann, der Losmann, der gerade der Cultur am dringendsten bedürfte, steht außerhalb ihrer Sphäre. Eine Landgemeinde¬ ordnung, die natürlichste Bildungsschule für den Landmann aller Classen, haben wir ja nicht und werden sie auch wohl so bald noch nicht bekommen! Auch die Wirksamkeit der Presse ist noch immer eine äußerst untergeord¬ nete. Hat auch bei dem Handwerker und Bauern das Bedürfniß, eine Zei¬ tung zu lesen, seit 1848 merklich zugenommen, so lesen doch auch diese Leute noch völlig ohne Nachdenken und Urtheil, ja kaum mit einigem Verständniß, sobald der Gegenstand über die alltäglichsten und nächstliegenden Interessen hinausgeht. Der Arbeiter aber liest überhaupt noch nicht — schon deswegen, weil er großenteils nicht mehr lesen kann! Es ist eine traurige Thatsache, daß unsere Provinz nebst Posen hinsicht¬ lich des Schulunterrichts hinter allen übrigen alten und neuen Provinzen des Staats weit zurücksteht. Von 1000 in den letzten Jahren eingestellten Rekruten waren ohne alle Schulbildung: in den Regierungsbezirken Königs¬ berg und Gumbinnen 101 Mann, in dem von Marienwerder 151 und im R. Danzig gar 162, durchschnittlich etwa 130! Aehnlich stehen nur noch Brom- berg mit 144 uKd Posen mit 133 auf 1000, während selbst Oppeln, das doch auch eine starke Quote polnisch redender Bevölkerung enthält, nur 75 auf 1000 ohne Schulbildung gestellt hat — zum deutlichen Beweise, daß es nicht allein an der Sprachvcrschiedenheit liegt. Wenn wir uns auch nicht mit dem alten Culturlande Sachsen oder mit Berlin, dem Hauptsitze der Intelligenz vergleichen wollen, die beide nur 2 Mann auf 1000 ohne Schul¬ kenntnisse aufzuweisen haben, so ist doch selbst die Mittelzahl der übrigen alten Provinzen 8—9. Wie tief stehen Preußen und Posen darunter! Und man könnte sich noch darüber trösten, wenn jene schlimme Zahl wenigstens gegen früher einen Fortschritt bedeutete. Aber nein — wir sind in den Resultaten der Schulbildung des gemeinen Mannes zurückgegan¬ gen! Als vor wenigen Jahren bei Anlage der Tilsit-Jnsterburger Eisenbahn Verhandlungen über die Grundentschädigung mit einer Menge von kleinen Besitzern gepflogen werden mußten, fand sich, daß die älteren Männer, welche ihre Schulbildung vor 40—50 Jahren erhalten hatten, noch fast

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/423>, abgerufen am 03.07.2024.