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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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alle lesen und schreiben konnten, von den jüngeren nur die Minderzahl! --

Ein Umstand, der zu diesem Rückschritte beigetragen haben mag, obwohl
er an sich mit einem Culturfortschritte zusammenhängt, ist das Halten
der sogenannten "Hütejungen". Früher, als noch jede Dorfschaft eine ge¬
meinschaftliche Weide hatte, hielt sie auch nur einen Gemeindehirten. Jetzt
nach durchgeführter Theilung muß jeder kleine. Besitzer sein Vieh auf seinem
Stückchen Weide besonders hüten lassen und verwendet dazu natürlich gern
die billigste Kraft, d.h. ein Kind im schulpflichtigen Alter. Die Schulstrafen
weiß er zu umgehen oder er bezahlt sie auch und kommt trotzdem noch billiger
fort. Unzweifelhaft werden auch auf vielen größeren Gütern Kinder, die
noch in die Schule gehörten, schon zu wirthschaftlichen Arbeiten verwandt,
nicht nur während der Erntezeit, wo ja durch lange Ferien auf diese Noth¬
wendigkeit Rücksicht genommen ist, sondern auch außerhalb derselben. -Da
hier der Gutsherr als Ortspolizei die Schulstrasen festzusetzen hat und der
Lehrer außerdem sehr von seinem Wohlwollen abhängt, so kann man sich
denken, wie dabei die gesetzlichen Bestimmungen gehandhabt werden. Hat ja
doch neuerdings einer unserer Pairs in dem Commissionsberichte über das
neue Volksschulgesetz die Kinder geradezu als ein wirthschaftliches Capital
bezeichnet, das die Eltern möglichst vortheilhaft auszunutzen suchen müßten;
das sei richtige Nationalökonomie! Die Amerikaner freilich, die doch auch
etwas von Nationalökonomie verstehen, denken anders. Sie glauben jenes
"Capital" zu verdoppeln, wenn sie zunächst dafür sorgen, daß die Kinder
möglichst viel lernen. Deshalb ist bei ihnen der Volksunterricht kostenfrei
und wird dennoch eifrig benutzt ohne Schulstrafen.

Indessen solche Versäumniß trifft doch nur Einzelne. Aber unsere
ganze Volksschule ist krank. Und wie könnte es an-ders sein bei dem
geistigen und materiellen Drucke, der auf den Lehrern lastet? Halb klösterlich
erzogen, von der Geistlichkeit bevormundet, von den Behörden ängstlich über¬
wacht, dabei mit einem Einkommen, welches sie kaum vor dem Hunger
schützt -- ist es unter solchen Verhältnissen ein Wunder, wenn sich die fähigen
Köpfe mehr und mehr von dieser dornenvollen Laufbahn abwenden, ja wenn
die Negierung nach eigenem Mngeständniß überhaupt nicht mehr Candidaten
genug für alle Stellen findet, sondern diese zum Theil durch Präparanden
-- selbst noch halbe Knaben -- verwalten lassen muß? Und endlich der Geist
des Unterrichts selbst! Einst hatten wir an der Spitze unsers Volksschul¬
wesens einen Dinter, jetzt haben wir -- die Regulative. Damit ist
Alles gesagt!

Noch vieles, Herr Redakteur, hätte ich über dieses und andere Capitel
auf dem Herzen. Doch bin ich wohl schon zu lang geworden und überdies
hat das Preßgesetz uns Ostpreußen gelehrt, daß in vielen Stücken Reden


alle lesen und schreiben konnten, von den jüngeren nur die Minderzahl! —

Ein Umstand, der zu diesem Rückschritte beigetragen haben mag, obwohl
er an sich mit einem Culturfortschritte zusammenhängt, ist das Halten
der sogenannten „Hütejungen". Früher, als noch jede Dorfschaft eine ge¬
meinschaftliche Weide hatte, hielt sie auch nur einen Gemeindehirten. Jetzt
nach durchgeführter Theilung muß jeder kleine. Besitzer sein Vieh auf seinem
Stückchen Weide besonders hüten lassen und verwendet dazu natürlich gern
die billigste Kraft, d.h. ein Kind im schulpflichtigen Alter. Die Schulstrafen
weiß er zu umgehen oder er bezahlt sie auch und kommt trotzdem noch billiger
fort. Unzweifelhaft werden auch auf vielen größeren Gütern Kinder, die
noch in die Schule gehörten, schon zu wirthschaftlichen Arbeiten verwandt,
nicht nur während der Erntezeit, wo ja durch lange Ferien auf diese Noth¬
wendigkeit Rücksicht genommen ist, sondern auch außerhalb derselben. -Da
hier der Gutsherr als Ortspolizei die Schulstrasen festzusetzen hat und der
Lehrer außerdem sehr von seinem Wohlwollen abhängt, so kann man sich
denken, wie dabei die gesetzlichen Bestimmungen gehandhabt werden. Hat ja
doch neuerdings einer unserer Pairs in dem Commissionsberichte über das
neue Volksschulgesetz die Kinder geradezu als ein wirthschaftliches Capital
bezeichnet, das die Eltern möglichst vortheilhaft auszunutzen suchen müßten;
das sei richtige Nationalökonomie! Die Amerikaner freilich, die doch auch
etwas von Nationalökonomie verstehen, denken anders. Sie glauben jenes
„Capital" zu verdoppeln, wenn sie zunächst dafür sorgen, daß die Kinder
möglichst viel lernen. Deshalb ist bei ihnen der Volksunterricht kostenfrei
und wird dennoch eifrig benutzt ohne Schulstrafen.

Indessen solche Versäumniß trifft doch nur Einzelne. Aber unsere
ganze Volksschule ist krank. Und wie könnte es an-ders sein bei dem
geistigen und materiellen Drucke, der auf den Lehrern lastet? Halb klösterlich
erzogen, von der Geistlichkeit bevormundet, von den Behörden ängstlich über¬
wacht, dabei mit einem Einkommen, welches sie kaum vor dem Hunger
schützt — ist es unter solchen Verhältnissen ein Wunder, wenn sich die fähigen
Köpfe mehr und mehr von dieser dornenvollen Laufbahn abwenden, ja wenn
die Negierung nach eigenem Mngeständniß überhaupt nicht mehr Candidaten
genug für alle Stellen findet, sondern diese zum Theil durch Präparanden
— selbst noch halbe Knaben — verwalten lassen muß? Und endlich der Geist
des Unterrichts selbst! Einst hatten wir an der Spitze unsers Volksschul¬
wesens einen Dinter, jetzt haben wir — die Regulative. Damit ist
Alles gesagt!

Noch vieles, Herr Redakteur, hätte ich über dieses und andere Capitel
auf dem Herzen. Doch bin ich wohl schon zu lang geworden und überdies
hat das Preßgesetz uns Ostpreußen gelehrt, daß in vielen Stücken Reden


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[0424] alle lesen und schreiben konnten, von den jüngeren nur die Minderzahl! — Ein Umstand, der zu diesem Rückschritte beigetragen haben mag, obwohl er an sich mit einem Culturfortschritte zusammenhängt, ist das Halten der sogenannten „Hütejungen". Früher, als noch jede Dorfschaft eine ge¬ meinschaftliche Weide hatte, hielt sie auch nur einen Gemeindehirten. Jetzt nach durchgeführter Theilung muß jeder kleine. Besitzer sein Vieh auf seinem Stückchen Weide besonders hüten lassen und verwendet dazu natürlich gern die billigste Kraft, d.h. ein Kind im schulpflichtigen Alter. Die Schulstrafen weiß er zu umgehen oder er bezahlt sie auch und kommt trotzdem noch billiger fort. Unzweifelhaft werden auch auf vielen größeren Gütern Kinder, die noch in die Schule gehörten, schon zu wirthschaftlichen Arbeiten verwandt, nicht nur während der Erntezeit, wo ja durch lange Ferien auf diese Noth¬ wendigkeit Rücksicht genommen ist, sondern auch außerhalb derselben. -Da hier der Gutsherr als Ortspolizei die Schulstrasen festzusetzen hat und der Lehrer außerdem sehr von seinem Wohlwollen abhängt, so kann man sich denken, wie dabei die gesetzlichen Bestimmungen gehandhabt werden. Hat ja doch neuerdings einer unserer Pairs in dem Commissionsberichte über das neue Volksschulgesetz die Kinder geradezu als ein wirthschaftliches Capital bezeichnet, das die Eltern möglichst vortheilhaft auszunutzen suchen müßten; das sei richtige Nationalökonomie! Die Amerikaner freilich, die doch auch etwas von Nationalökonomie verstehen, denken anders. Sie glauben jenes „Capital" zu verdoppeln, wenn sie zunächst dafür sorgen, daß die Kinder möglichst viel lernen. Deshalb ist bei ihnen der Volksunterricht kostenfrei und wird dennoch eifrig benutzt ohne Schulstrafen. Indessen solche Versäumniß trifft doch nur Einzelne. Aber unsere ganze Volksschule ist krank. Und wie könnte es an-ders sein bei dem geistigen und materiellen Drucke, der auf den Lehrern lastet? Halb klösterlich erzogen, von der Geistlichkeit bevormundet, von den Behörden ängstlich über¬ wacht, dabei mit einem Einkommen, welches sie kaum vor dem Hunger schützt — ist es unter solchen Verhältnissen ein Wunder, wenn sich die fähigen Köpfe mehr und mehr von dieser dornenvollen Laufbahn abwenden, ja wenn die Negierung nach eigenem Mngeständniß überhaupt nicht mehr Candidaten genug für alle Stellen findet, sondern diese zum Theil durch Präparanden — selbst noch halbe Knaben — verwalten lassen muß? Und endlich der Geist des Unterrichts selbst! Einst hatten wir an der Spitze unsers Volksschul¬ wesens einen Dinter, jetzt haben wir — die Regulative. Damit ist Alles gesagt! Noch vieles, Herr Redakteur, hätte ich über dieses und andere Capitel auf dem Herzen. Doch bin ich wohl schon zu lang geworden und überdies hat das Preßgesetz uns Ostpreußen gelehrt, daß in vielen Stücken Reden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/424>, abgerufen am 01.07.2024.