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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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"Schmerzensschrei" haben hören lassen. Der Litthauer und Masure hat in
der That gar kein anderes nationales Bewußtsein, als daß er unter der
schwarzweißen Cocarde dem Könige von Preußen gedient hat. Und der
masurische Bauer bewahrt noch die dunkle Erinnerung an die polnische Leib¬
eigenschaft und weiß, daß seine Vorfahren in Preußens großer Verjüngungs¬
periode "die Hufe" vom Könige zu eigen bekommen haben. Deshalb hegt
er, so weit er protestantisch ist, gegen den Polen Mißtrauen und Abneigung.
Ja, vor den Wahlen von 1849 und wieder 1866 wurde von reactionären
Werkzeugen das Märchen verbreitet, die Demokraten wollten Masuren wieder
polnisch machen. So plump die Lüge war, sie fand Glauben und genügte,
viele Bauern ins Lager der Reaction zu treiben. Gelag, diese beiden nicht
deutschen Stämme, welche in manchen Grenzkreisen noch die Mehrzahl bilden
und deren Germanisirung nur langsam vorrückt, sind ein Hemmschuh für den
Fortschritt der Cultur. Woher sollte ihnen diese auch kommen? Der Gebil¬
dete spricht und ist Deutsch. Ihr ganzer Bücherschatz beschränkt sich auf
Bibel, Gesangbuch und einige, meist aus älterer Zeit stammende, streng
orthodoxe Erbauungsbücher; dazu den lithauischen .Aeleinis" (d. h. Wan¬
derer), ein Wochenblatt voll Aberglauben und Fanatismus, das die Auf¬
klärung und Demokratie als die Wurzel alles Uebels darzustellen liebt. Die
liberale Partei hat den Versuch nicht unterlassen, in verständig redigirten
Wochenblättern den Litthauern und Masuren frische geistige Nahrung dar¬
zubieten. Aber unsere traurigen Preßverhältnisse haben diese Versuche erstickt,
ehe sich noch bei jenen Stämmen die Gewohnheit des Lesens recht befestigen
konnte. Und wie in geistiger Beziehung, so ist es auch in moralischer
gar übel mit ihnen bestellt. Auf den bösen Einfluß des Schleichhandels ist
schon hingewiesen worden. Das rauhe Klima und die harte Feldarbeit be¬
günstigen serner den Trunk und mit ihm Zank, Schlägereien, Familien-
zerwürsnisse, Verwahrlosung der Kinder. Die Begriffe von Ehre, Pflicht
und Gesetz stehen noch auf der niedersten Stufe: Holzdiebstahl gilt kaum als
Diebstahl, Unkeuschheit ist bei der ärmeren Classe kaum mehr ein Tadel. Aber
auch in den Theilen der Provinz, wo Masuren und Litthauer gar nicht oder
nur als vereinzelte germanisirte Einwanderer vorhanden sind, ist eine Kluft
zwischen den gebildeten und ungebildeten Classen, als wohnten zwei ver¬
schiedene Volksstämme auf derselben Scholle. Der gemeine Mann spricht platt¬
deutsch, die Gebildeten hochdeutsch. Jener ermangelt des natürlichen An-
standes, der gefälligen Sitte, die den Verkehr mit jedem gewöhnlichen Arbeiter
im westlichen Deutschland leicht und angenehm machen: er ist entweder unter¬
würfig oder grob. Die nordische Abgeschlossenheit der höheren Stände thut
das Uebrige die chinesische Mauer ist fertig! In den größeren Städten
hat das Vereinswesen der neuesten Zeit angefangen, eine Bresche in dieselbe


„Schmerzensschrei" haben hören lassen. Der Litthauer und Masure hat in
der That gar kein anderes nationales Bewußtsein, als daß er unter der
schwarzweißen Cocarde dem Könige von Preußen gedient hat. Und der
masurische Bauer bewahrt noch die dunkle Erinnerung an die polnische Leib¬
eigenschaft und weiß, daß seine Vorfahren in Preußens großer Verjüngungs¬
periode „die Hufe" vom Könige zu eigen bekommen haben. Deshalb hegt
er, so weit er protestantisch ist, gegen den Polen Mißtrauen und Abneigung.
Ja, vor den Wahlen von 1849 und wieder 1866 wurde von reactionären
Werkzeugen das Märchen verbreitet, die Demokraten wollten Masuren wieder
polnisch machen. So plump die Lüge war, sie fand Glauben und genügte,
viele Bauern ins Lager der Reaction zu treiben. Gelag, diese beiden nicht
deutschen Stämme, welche in manchen Grenzkreisen noch die Mehrzahl bilden
und deren Germanisirung nur langsam vorrückt, sind ein Hemmschuh für den
Fortschritt der Cultur. Woher sollte ihnen diese auch kommen? Der Gebil¬
dete spricht und ist Deutsch. Ihr ganzer Bücherschatz beschränkt sich auf
Bibel, Gesangbuch und einige, meist aus älterer Zeit stammende, streng
orthodoxe Erbauungsbücher; dazu den lithauischen .Aeleinis" (d. h. Wan¬
derer), ein Wochenblatt voll Aberglauben und Fanatismus, das die Auf¬
klärung und Demokratie als die Wurzel alles Uebels darzustellen liebt. Die
liberale Partei hat den Versuch nicht unterlassen, in verständig redigirten
Wochenblättern den Litthauern und Masuren frische geistige Nahrung dar¬
zubieten. Aber unsere traurigen Preßverhältnisse haben diese Versuche erstickt,
ehe sich noch bei jenen Stämmen die Gewohnheit des Lesens recht befestigen
konnte. Und wie in geistiger Beziehung, so ist es auch in moralischer
gar übel mit ihnen bestellt. Auf den bösen Einfluß des Schleichhandels ist
schon hingewiesen worden. Das rauhe Klima und die harte Feldarbeit be¬
günstigen serner den Trunk und mit ihm Zank, Schlägereien, Familien-
zerwürsnisse, Verwahrlosung der Kinder. Die Begriffe von Ehre, Pflicht
und Gesetz stehen noch auf der niedersten Stufe: Holzdiebstahl gilt kaum als
Diebstahl, Unkeuschheit ist bei der ärmeren Classe kaum mehr ein Tadel. Aber
auch in den Theilen der Provinz, wo Masuren und Litthauer gar nicht oder
nur als vereinzelte germanisirte Einwanderer vorhanden sind, ist eine Kluft
zwischen den gebildeten und ungebildeten Classen, als wohnten zwei ver¬
schiedene Volksstämme auf derselben Scholle. Der gemeine Mann spricht platt¬
deutsch, die Gebildeten hochdeutsch. Jener ermangelt des natürlichen An-
standes, der gefälligen Sitte, die den Verkehr mit jedem gewöhnlichen Arbeiter
im westlichen Deutschland leicht und angenehm machen: er ist entweder unter¬
würfig oder grob. Die nordische Abgeschlossenheit der höheren Stände thut
das Uebrige die chinesische Mauer ist fertig! In den größeren Städten
hat das Vereinswesen der neuesten Zeit angefangen, eine Bresche in dieselbe


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[0422] „Schmerzensschrei" haben hören lassen. Der Litthauer und Masure hat in der That gar kein anderes nationales Bewußtsein, als daß er unter der schwarzweißen Cocarde dem Könige von Preußen gedient hat. Und der masurische Bauer bewahrt noch die dunkle Erinnerung an die polnische Leib¬ eigenschaft und weiß, daß seine Vorfahren in Preußens großer Verjüngungs¬ periode „die Hufe" vom Könige zu eigen bekommen haben. Deshalb hegt er, so weit er protestantisch ist, gegen den Polen Mißtrauen und Abneigung. Ja, vor den Wahlen von 1849 und wieder 1866 wurde von reactionären Werkzeugen das Märchen verbreitet, die Demokraten wollten Masuren wieder polnisch machen. So plump die Lüge war, sie fand Glauben und genügte, viele Bauern ins Lager der Reaction zu treiben. Gelag, diese beiden nicht deutschen Stämme, welche in manchen Grenzkreisen noch die Mehrzahl bilden und deren Germanisirung nur langsam vorrückt, sind ein Hemmschuh für den Fortschritt der Cultur. Woher sollte ihnen diese auch kommen? Der Gebil¬ dete spricht und ist Deutsch. Ihr ganzer Bücherschatz beschränkt sich auf Bibel, Gesangbuch und einige, meist aus älterer Zeit stammende, streng orthodoxe Erbauungsbücher; dazu den lithauischen .Aeleinis" (d. h. Wan¬ derer), ein Wochenblatt voll Aberglauben und Fanatismus, das die Auf¬ klärung und Demokratie als die Wurzel alles Uebels darzustellen liebt. Die liberale Partei hat den Versuch nicht unterlassen, in verständig redigirten Wochenblättern den Litthauern und Masuren frische geistige Nahrung dar¬ zubieten. Aber unsere traurigen Preßverhältnisse haben diese Versuche erstickt, ehe sich noch bei jenen Stämmen die Gewohnheit des Lesens recht befestigen konnte. Und wie in geistiger Beziehung, so ist es auch in moralischer gar übel mit ihnen bestellt. Auf den bösen Einfluß des Schleichhandels ist schon hingewiesen worden. Das rauhe Klima und die harte Feldarbeit be¬ günstigen serner den Trunk und mit ihm Zank, Schlägereien, Familien- zerwürsnisse, Verwahrlosung der Kinder. Die Begriffe von Ehre, Pflicht und Gesetz stehen noch auf der niedersten Stufe: Holzdiebstahl gilt kaum als Diebstahl, Unkeuschheit ist bei der ärmeren Classe kaum mehr ein Tadel. Aber auch in den Theilen der Provinz, wo Masuren und Litthauer gar nicht oder nur als vereinzelte germanisirte Einwanderer vorhanden sind, ist eine Kluft zwischen den gebildeten und ungebildeten Classen, als wohnten zwei ver¬ schiedene Volksstämme auf derselben Scholle. Der gemeine Mann spricht platt¬ deutsch, die Gebildeten hochdeutsch. Jener ermangelt des natürlichen An- standes, der gefälligen Sitte, die den Verkehr mit jedem gewöhnlichen Arbeiter im westlichen Deutschland leicht und angenehm machen: er ist entweder unter¬ würfig oder grob. Die nordische Abgeschlossenheit der höheren Stände thut das Uebrige die chinesische Mauer ist fertig! In den größeren Städten hat das Vereinswesen der neuesten Zeit angefangen, eine Bresche in dieselbe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/422>, abgerufen am 22.07.2024.