Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

würden heute wahrscheinlich fünfzig, vielleicht hundert Menschen mehr am
Leben sein, welche hingeopfert worden sind.

Das Surrogat ist also dem Originalartikel vorzuziehen, auch wo dieser
allenfalls zu haben wäre. Dazu kommt aber noch, daß es in hundert Fällen
ebenfalls zu haben ist, in denen der Originalartikel gänzlich außer Frage
bleibt. Aerztliche Begleitung kann natürlich nur bei einer großen Zahl von
Passagieren vorgeschrieben werden; die newyorker Deutsche Gesellschaft nimmt
50 als die anzusetzende Minimalzahl an. Eine elementare medicinische chirur¬
gische Ausbildung von Capitänen und Steuerleuten dagegen würde mit der
Zeit jedem Schiffe ohne Ausnahme, also außer sämmtlichen Schiffsreisenden
auch oller Schiffsmannschaften zu Gute kommen. Sie wäre gleichbedeutend
mit Einbürgerung der Heilkunde auf der ganzen Kauffahrteiflotte. Mit ihr
wird eine Maßregel vom sichersten, höchsten und allgemeinsten Werthe an
die Stelle einer Maßregel von ungewissem und jedenfalls nur partiellen Er¬
folge gesetzt.

Hiernach wäre also erstens der an der bremer Steuermannsschule facul-
tativ bestehende Unterricht in der Schiffsheilkunde an allen deutschen Steuer¬
mannsschulen unter die obligatorischen Fächer aufzunehmen, und zweitens
von einem gewissen nicht zu entfernten Termin an vorzuschreiben, daß der
Capitän und der Obersteuermann eines Passagierschiffs sich darüber ausweisen
müssen, einen solchen Cursus mit Nutzen absolvirt zu haben.

Eine weitere zu empfehlende Vorsichtsmaßregel wäre verschärfte Aufsicht
darüber, daß nicht Keime von Epidemien in ein Auswandererschiff eingeschleppt
werden. Diese Maßregel weist schon auf die Nothwendigkeit bundesmäßiger
Inspection hin. Eine solche Inspection hätte außerdem noch zu constatiren,
daß die bestehenden resp, zu erlassenden Vorschriften über das Verhältniß
der Kopfzahl zum Raume, über die mitzunehmenden Lebensmittel, Wasser¬
vorräthe und Arzneien, über Reinlichkeitsanstalten und Krankengelder u. f. f.,
in jedem einzelnen Falle genau befolgt seien. Bisher ist diese Fürsorge Ham¬
burg und Bremen allein überlassen worden. Man kann nicht sagen, daß
die beiden Freistätte ihre Pflicht gänzlich verkannt oder gröblich vernachlässigt
hätten. Im Gegentheil, das Interesse des eigenen Platzes im Gegensatz zu
concurrirenden Häfen und wohl auch ein gewisses allgemeines humanes und
Patriotisches Mitgefühl mit den auswandernden Landsleuten haben sie ge¬
trieben, nach Kräften und bestem Wissen einer schlechten Behandlung der
Auswanderer entgegenzuwirken. Es ist notorisch, daß die deutsche Auswan¬
dererbeförderung im ganzen vor jeder auswärtigen entschieden den Vorzug
verdient. Die Sterblichkeitsziffern zeugen allerdings gegen die hamburgischen
Segelschiffe, hauptsächlich wohl, weil der Gebrauch des unteren Decks in
Hamburg nicht verboten ist und vielleicht auch wegen des nicht besonders ge-


würden heute wahrscheinlich fünfzig, vielleicht hundert Menschen mehr am
Leben sein, welche hingeopfert worden sind.

Das Surrogat ist also dem Originalartikel vorzuziehen, auch wo dieser
allenfalls zu haben wäre. Dazu kommt aber noch, daß es in hundert Fällen
ebenfalls zu haben ist, in denen der Originalartikel gänzlich außer Frage
bleibt. Aerztliche Begleitung kann natürlich nur bei einer großen Zahl von
Passagieren vorgeschrieben werden; die newyorker Deutsche Gesellschaft nimmt
50 als die anzusetzende Minimalzahl an. Eine elementare medicinische chirur¬
gische Ausbildung von Capitänen und Steuerleuten dagegen würde mit der
Zeit jedem Schiffe ohne Ausnahme, also außer sämmtlichen Schiffsreisenden
auch oller Schiffsmannschaften zu Gute kommen. Sie wäre gleichbedeutend
mit Einbürgerung der Heilkunde auf der ganzen Kauffahrteiflotte. Mit ihr
wird eine Maßregel vom sichersten, höchsten und allgemeinsten Werthe an
die Stelle einer Maßregel von ungewissem und jedenfalls nur partiellen Er¬
folge gesetzt.

Hiernach wäre also erstens der an der bremer Steuermannsschule facul-
tativ bestehende Unterricht in der Schiffsheilkunde an allen deutschen Steuer¬
mannsschulen unter die obligatorischen Fächer aufzunehmen, und zweitens
von einem gewissen nicht zu entfernten Termin an vorzuschreiben, daß der
Capitän und der Obersteuermann eines Passagierschiffs sich darüber ausweisen
müssen, einen solchen Cursus mit Nutzen absolvirt zu haben.

Eine weitere zu empfehlende Vorsichtsmaßregel wäre verschärfte Aufsicht
darüber, daß nicht Keime von Epidemien in ein Auswandererschiff eingeschleppt
werden. Diese Maßregel weist schon auf die Nothwendigkeit bundesmäßiger
Inspection hin. Eine solche Inspection hätte außerdem noch zu constatiren,
daß die bestehenden resp, zu erlassenden Vorschriften über das Verhältniß
der Kopfzahl zum Raume, über die mitzunehmenden Lebensmittel, Wasser¬
vorräthe und Arzneien, über Reinlichkeitsanstalten und Krankengelder u. f. f.,
in jedem einzelnen Falle genau befolgt seien. Bisher ist diese Fürsorge Ham¬
burg und Bremen allein überlassen worden. Man kann nicht sagen, daß
die beiden Freistätte ihre Pflicht gänzlich verkannt oder gröblich vernachlässigt
hätten. Im Gegentheil, das Interesse des eigenen Platzes im Gegensatz zu
concurrirenden Häfen und wohl auch ein gewisses allgemeines humanes und
Patriotisches Mitgefühl mit den auswandernden Landsleuten haben sie ge¬
trieben, nach Kräften und bestem Wissen einer schlechten Behandlung der
Auswanderer entgegenzuwirken. Es ist notorisch, daß die deutsche Auswan¬
dererbeförderung im ganzen vor jeder auswärtigen entschieden den Vorzug
verdient. Die Sterblichkeitsziffern zeugen allerdings gegen die hamburgischen
Segelschiffe, hauptsächlich wohl, weil der Gebrauch des unteren Decks in
Hamburg nicht verboten ist und vielleicht auch wegen des nicht besonders ge-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0389" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117393"/>
          <p xml:id="ID_1267" prev="#ID_1266"> würden heute wahrscheinlich fünfzig, vielleicht hundert Menschen mehr am<lb/>
Leben sein, welche hingeopfert worden sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1268"> Das Surrogat ist also dem Originalartikel vorzuziehen, auch wo dieser<lb/>
allenfalls zu haben wäre. Dazu kommt aber noch, daß es in hundert Fällen<lb/>
ebenfalls zu haben ist, in denen der Originalartikel gänzlich außer Frage<lb/>
bleibt. Aerztliche Begleitung kann natürlich nur bei einer großen Zahl von<lb/>
Passagieren vorgeschrieben werden; die newyorker Deutsche Gesellschaft nimmt<lb/>
50 als die anzusetzende Minimalzahl an. Eine elementare medicinische chirur¬<lb/>
gische Ausbildung von Capitänen und Steuerleuten dagegen würde mit der<lb/>
Zeit jedem Schiffe ohne Ausnahme, also außer sämmtlichen Schiffsreisenden<lb/>
auch oller Schiffsmannschaften zu Gute kommen. Sie wäre gleichbedeutend<lb/>
mit Einbürgerung der Heilkunde auf der ganzen Kauffahrteiflotte. Mit ihr<lb/>
wird eine Maßregel vom sichersten, höchsten und allgemeinsten Werthe an<lb/>
die Stelle einer Maßregel von ungewissem und jedenfalls nur partiellen Er¬<lb/>
folge gesetzt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1269"> Hiernach wäre also erstens der an der bremer Steuermannsschule facul-<lb/>
tativ bestehende Unterricht in der Schiffsheilkunde an allen deutschen Steuer¬<lb/>
mannsschulen unter die obligatorischen Fächer aufzunehmen, und zweitens<lb/>
von einem gewissen nicht zu entfernten Termin an vorzuschreiben, daß der<lb/>
Capitän und der Obersteuermann eines Passagierschiffs sich darüber ausweisen<lb/>
müssen, einen solchen Cursus mit Nutzen absolvirt zu haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1270" next="#ID_1271"> Eine weitere zu empfehlende Vorsichtsmaßregel wäre verschärfte Aufsicht<lb/>
darüber, daß nicht Keime von Epidemien in ein Auswandererschiff eingeschleppt<lb/>
werden. Diese Maßregel weist schon auf die Nothwendigkeit bundesmäßiger<lb/>
Inspection hin. Eine solche Inspection hätte außerdem noch zu constatiren,<lb/>
daß die bestehenden resp, zu erlassenden Vorschriften über das Verhältniß<lb/>
der Kopfzahl zum Raume, über die mitzunehmenden Lebensmittel, Wasser¬<lb/>
vorräthe und Arzneien, über Reinlichkeitsanstalten und Krankengelder u. f. f.,<lb/>
in jedem einzelnen Falle genau befolgt seien. Bisher ist diese Fürsorge Ham¬<lb/>
burg und Bremen allein überlassen worden. Man kann nicht sagen, daß<lb/>
die beiden Freistätte ihre Pflicht gänzlich verkannt oder gröblich vernachlässigt<lb/>
hätten. Im Gegentheil, das Interesse des eigenen Platzes im Gegensatz zu<lb/>
concurrirenden Häfen und wohl auch ein gewisses allgemeines humanes und<lb/>
Patriotisches Mitgefühl mit den auswandernden Landsleuten haben sie ge¬<lb/>
trieben, nach Kräften und bestem Wissen einer schlechten Behandlung der<lb/>
Auswanderer entgegenzuwirken. Es ist notorisch, daß die deutsche Auswan¬<lb/>
dererbeförderung im ganzen vor jeder auswärtigen entschieden den Vorzug<lb/>
verdient. Die Sterblichkeitsziffern zeugen allerdings gegen die hamburgischen<lb/>
Segelschiffe, hauptsächlich wohl, weil der Gebrauch des unteren Decks in<lb/>
Hamburg nicht verboten ist und vielleicht auch wegen des nicht besonders ge-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0389] würden heute wahrscheinlich fünfzig, vielleicht hundert Menschen mehr am Leben sein, welche hingeopfert worden sind. Das Surrogat ist also dem Originalartikel vorzuziehen, auch wo dieser allenfalls zu haben wäre. Dazu kommt aber noch, daß es in hundert Fällen ebenfalls zu haben ist, in denen der Originalartikel gänzlich außer Frage bleibt. Aerztliche Begleitung kann natürlich nur bei einer großen Zahl von Passagieren vorgeschrieben werden; die newyorker Deutsche Gesellschaft nimmt 50 als die anzusetzende Minimalzahl an. Eine elementare medicinische chirur¬ gische Ausbildung von Capitänen und Steuerleuten dagegen würde mit der Zeit jedem Schiffe ohne Ausnahme, also außer sämmtlichen Schiffsreisenden auch oller Schiffsmannschaften zu Gute kommen. Sie wäre gleichbedeutend mit Einbürgerung der Heilkunde auf der ganzen Kauffahrteiflotte. Mit ihr wird eine Maßregel vom sichersten, höchsten und allgemeinsten Werthe an die Stelle einer Maßregel von ungewissem und jedenfalls nur partiellen Er¬ folge gesetzt. Hiernach wäre also erstens der an der bremer Steuermannsschule facul- tativ bestehende Unterricht in der Schiffsheilkunde an allen deutschen Steuer¬ mannsschulen unter die obligatorischen Fächer aufzunehmen, und zweitens von einem gewissen nicht zu entfernten Termin an vorzuschreiben, daß der Capitän und der Obersteuermann eines Passagierschiffs sich darüber ausweisen müssen, einen solchen Cursus mit Nutzen absolvirt zu haben. Eine weitere zu empfehlende Vorsichtsmaßregel wäre verschärfte Aufsicht darüber, daß nicht Keime von Epidemien in ein Auswandererschiff eingeschleppt werden. Diese Maßregel weist schon auf die Nothwendigkeit bundesmäßiger Inspection hin. Eine solche Inspection hätte außerdem noch zu constatiren, daß die bestehenden resp, zu erlassenden Vorschriften über das Verhältniß der Kopfzahl zum Raume, über die mitzunehmenden Lebensmittel, Wasser¬ vorräthe und Arzneien, über Reinlichkeitsanstalten und Krankengelder u. f. f., in jedem einzelnen Falle genau befolgt seien. Bisher ist diese Fürsorge Ham¬ burg und Bremen allein überlassen worden. Man kann nicht sagen, daß die beiden Freistätte ihre Pflicht gänzlich verkannt oder gröblich vernachlässigt hätten. Im Gegentheil, das Interesse des eigenen Platzes im Gegensatz zu concurrirenden Häfen und wohl auch ein gewisses allgemeines humanes und Patriotisches Mitgefühl mit den auswandernden Landsleuten haben sie ge¬ trieben, nach Kräften und bestem Wissen einer schlechten Behandlung der Auswanderer entgegenzuwirken. Es ist notorisch, daß die deutsche Auswan¬ dererbeförderung im ganzen vor jeder auswärtigen entschieden den Vorzug verdient. Die Sterblichkeitsziffern zeugen allerdings gegen die hamburgischen Segelschiffe, hauptsächlich wohl, weil der Gebrauch des unteren Decks in Hamburg nicht verboten ist und vielleicht auch wegen des nicht besonders ge-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/389
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/389>, abgerufen am 24.08.2024.